Die deutsche Seele
Lied der Zupfgeigenhansl verstummt, erschallt es aus anderer Richtung: »Das Wandern ist des Müllers Lust, das Wandern ist des Müllers Lust, das Wa-han-dern…«
Hat die germanische Wandersehnsucht denn heute alle gepackt?
Keine Müller sind’s, die da nahen: Ein ganzer Frauengesangverein stapft heran - oder ist es ein singender Frauenwanderverein? Die Damen tragen wetterfesteste Funktionsjacken, die mich sofort den Blick gen Himmel richten lassen. Kein Wölkchen dort droben. Die Damen grüßen herzlich, jede einen Teleskopstock fest in der Hand. »Letzten Monat haben wir den Hermannsweg gemacht«, ruft die Anführerin, »vor zwei Monaten sind wir den Rennsteig abgewandert, jetzt raten Sie mal, wohin wir nächsten Monat fahren?«
»Zum Frau-Holle-Pfad«, vermute ich.
»Wir wandern alle Wege nach, die Bundespräsident Karl Carstens in seiner Amtszeit gewandert ist«, strahlt die Anführerin und gibt ihren Gefährtinnen den Wink weiterzumarschieren: »O Wandern, Wandern, meine Lust, o Wandern, Wandern, meine Lust, o Wa-han-dern …«
Ich verlasse den ausgetretenen Pfad, bevor mir noch die Bundeskanzlerin samt Sicherheitstross entgegenkommt. Eine Krähe begleitet meinen Gang ins Unterholz mit Gekrächz, als wollte sie mich ermahnen, auf den Weg zurückzukehren. Schon sehe ich einen Waldhüter hinter der nächsten Tanne hervorspringen, um mich zu verhaften; sehe, wie sich die Krähe auf seine Schulter setzt, das Brustgefieder stolz geplustert. Doch nur eine Ameise krabbelt mein rechtes Bein hinauf.
Ich suche mir einen Findling mit Blick, die Sonne steht hoch am Himmel, Zeit für die erste Rast mit »Wasser und Käse und Brot. Wie immer beim Wandern schmeckt köstlich, was am Küchentisch fad erscheint. Die Stadt im Tal ist schon gar keine Stadt mehr, bloß ein Fleck, eine Gedächtnisstütze, die wegzustoßen es auch noch gilt. Der Fels im Rücken ist warm, der zusammengerollte Pullover im Nacken weich. Ich überlasse die Emsigkeit den Insekten, mich dem Schlummer.
Im Traum sehe ich einen Mann, dem ich noch nie begegnet bin und der dennoch vertraut wirkt. Er spaziert einen sonnigen Hang entlang. Im Süden muss es sein, Alpen, Tessin. Eine feine Brille ziert seine Nase, ein weicher, breitkrempiger Hut hängt ihm über die Stirn. Hinter ihm läuft eine junge Frau her, barfuß, und weint. Ohne sich umzudrehen spricht er: »Schöne, hellblonde, lustige Frau! Ich habe dich eine Stunde lang geliebt, niemand hat dich mehr geliebt als ich, niemand hat dir jemals so viel Macht über sich eingeräumt wie ich. Aber ich bin zur Untreue verurteilt. Ich gehöre zu den Windbeuteln, welche nicht eine Frau, sondern nur die Liebe lieben. Wir Wanderer sind alle so beschaffen. Unser Wandertrieb und Vagabundentum ist Erotik. Wir Wanderer sind darin geübt, Liebeswünsche gerade um ihrer Unerfüllbarkeit willen zu hegen, und jene Liebe, welche eigentlich dem Weib gehörte, spielend zu verteilen an Dorf und Berg, See und Schlucht, an die Kinder am Weg, den Bettler an der Brücke, das Rind auf der Weide, den Vogel, den Schmetterling. Wir lösen die Liebe vom Gegenstand, die Liebe selbst ist uns genug, ebenso wie wir im Wandern nicht das Ziel suchen, sondern nur den Genuss des Wanderns selbst.«
Ich wache auf. Etwas hat mich gestochen. Leicht benommen sauge ich an dem roten Punkt, der auf meinem Handrücken wächst. Ich nehme es als Strafe dafür, an meinem Wandertag von Hermann Hesse geträumt zu haben. Aber bin ich nicht selbst eine Davonläuferin? Habe ich nicht den Mann im Tal gelassen, einen Zettel auf dem Küchentisch: »Muss raus, weiß nicht, wann ich zurückkomme, mach dir keine Sorgen!«
Erst als ich wieder in die Wanderschuhe steige, spüre ich die Blase, die sich an der linken Ferse gebildet hat. Vom Nötigen nur das Notwendigste einpacken … Während ich die Wasser-, Käse- und Brotreste im Rucksack verstaue, steht plötzlich ein Mann vor meinem Fels.
»Wandern ist kein Vergnügen, es ist Gottesdienst«, ruft er mir heiter zu. Seine hellen Augen blitzen. »Zum Wandern gehört die ingenua dilectio, die innere Hingerissenheit.« Er hält sein verwittertes Gesicht in die Sonne. »Wandern ist höchste Willkür. Wir verlieren uns in die Anarchie, wir lassen uns bis in dieses Äußerste gehen. Jeder Schritt führt uns in die Unendlichkeit. Eine Lust, alles zu lassen und zu vermissen. Die Geschichte ist verbraucht, die Kunst überflüssig, und die Errungenschaften werden entbehrlich.«
Nie hat mir einer schöner gesagt, dass
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