Die deutsche Seele
auch er kein Blasenpflaster bei sich hat. Ich frage ihn nach seinem Namen. Lachend schüttelt er den Kopf: »Wie ich heiße, tut nichts zur Sache, mich kennt ohnehin keiner mehr.« Bevor ich wieder in meinen Schuhen bin, hat er sich an die Schiebermütze getippt und zum Gehen gewandt. Ich sehe, dass er ganz ohne Gepäck unterwegs ist.
»Bitte!«, rufe ich ihm hinterher. »Ich will wissen, an wen ich mich erinnern werde!«
»Jürgen von der Wense«, antwortet es hinter dem Holunderbusch. Er hat recht. Ihn kennt tatsächlich keiner mehr.
Einsam steige ich weiter über Moos und Laub und Heidelbeergestrüpp, nur Mücken um mich her, Spinnen, deren Netze sich auf mein Gesicht legen, bis ich den Grat erreiche. Wo der Wald den Blick freigibt, kann ich ins nächste Tal hinabsehen. Doch ich möchte nicht hinab. Ich bleibe auf dem gezackten Rücken, der Schmerz im Fuß pocht bei jedem Schritt. Ich lerne, ihn mitzunehmen auf meiner Reise.
Der Himmel hat sich verdüstert, keine Sonnenstrahlen fallen mehr durchs Blätterdach. Ich denke an die Damen mit ihren FunktionsJacken, die sich jetzt freuen, während ich nur einen dünnen Regenschutz um die Hüften gebunden habe.
Da hetzt einer vorbei, als jage der Wahnsinn auf Rossen hinter ihm her. »Lenz!«, rufe ich, »Lenz! Halte doch ein! Du machst mich schwindlig mit deinem Rasen!« Kurz bleibt er stehen, keuchend, den Leib vorwärtsgebogen, Augen und Mund weit offen, als wollte er den Sturm in sich ziehen, es reißt ihm in der Brust, kein Wort findet heraus, und schon fliegt er den Abhang hinunter. Ich weiß, dass ihm nicht zu helfen ist, dem Friedlosen, der keine Müdigkeit kennt, dem es nur manchmal unangenehm ist, dass er nicht auf dem Kopf gehen kann. Zum ersten Mal an diesem Tag beginne ich laut zu singen: »Lange wandern wir umher, durch die Länder kreuz und quer, wandern auf und nieder, keiner sieht sie wieder.«
Der Wind fegt meine Töne fort. Was kann ich ausrichten gegen das Gebrüll der Wipfel? Ich wünschte, Nietzsche wäre bei mir und lehrte mich, die ganze Tatsache Mensch aus ungeheurer Ferne zu betrachten. Nun stehst du bleich, zur Winter-Wanderschaft verflucht, dem Rauche gleich, der stets nach kältern Himmeln sucht.
In der Ferne meine ich, einen Weg zu erkennen. Ich eile die Senke hinunter, auf der anderen Seite wieder hinauf, und stehe vor einem schroffen Felsband. Die ersten Flocken wirbeln aus dem Himmel, der schwarz wie Nacht geworden ist. Ich spare mir die Mühe, meinen Regenschutz überzustreifen. Irgendwo sehe ich ein Licht. Ich folge ihm. Es erlischt. Es flammt wieder auf. Ein Irrlicht treibt sein Spiel mit mir.
Da spüre ich eine leichte Hand auf meiner Schulter. Ich fahre herum. Der kleine, dickliche Mann muss halb blind sein hinter seiner beschlagenen Brille, die dunklen Locken klatschen ihm nass in die Stirn. Nicht Nietzsche ist es, der sich mit mir in diese Felsengründe verlaufen hat. Franz Schubert ist’s, der Größte aller Winterreisenden von Ewigkeit zu Ewigkeit. Nun weiß ich: Nichts kann geschehen, vor dem zu fürchten sich lohnt. Einen Weiser seh’ ich stehen unverrückt vor meinem Blick, eine Straße muss ich gehen, die noch keiner ging zurück. Wir fassen uns an der Hand und laufen tiefer hinein in den verstürmten Winterwald.
>Abgrund, Bergfilm, Bruder Baum, Fahrvergnügen, Freikörperkultur, Jugendherberge, Mittelgebirge, Sehnsucht, Vereinsmeier, Waldeinsamkeit
Das Weib
Es beginnt mit einem Rätsel. Wieso ist ein Wesen, das kaum einer definieren mag, ohne beide Hände anerkennend vor der Brust zu wölben, an dessen natürlichem Geschlecht somit nicht der geringste Zweifel besteht, dem grammatikalischen Geschlecht nach sächlich? Wieso heißt es das Weib?
Da ist selbst das Wörterbuch der Brüder Grimm, sonst maßgebliches Orakel für alle Mysterien der deutschen Sprache, ratlos: Das germanische »wiba« weise keinerlei außergermanische Sprachbeziehungen auf, was dazu nötige, in »Weib« einen durch die besonderen germanischen Vorstellungen bestimmten Inhalt zu suchen, zugleich müsse die Erklärung dem so auffälligen neutralen Genus des Wortes gerecht werden. Möglich sei, dass »wiba« im Ablaut zu althochdeutsch »weibön« = »schwanken, schweben, wallen« stehe, und »Weib« somit »das webende, schwebende Wesen« bedeute. Das Neutrum hingegen durch den Vergleich mit »Pferd, Schaf, Rind« zu erklären, ginge nicht an. Letztlich blieben nur zwei Lösungsansätze: Man müsse »das Weib« entweder in Bezug zu den
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