Die deutsche Seele
Roman im Gepäck konnte man kaum mithalten, geschweige denn kontern. Bleibt die Frage: Warum schrieben die deutschen Autoren nicht die Romane, die ihre Leser lesen wollten?
Stattdessen erklärte man den Unterhaltungswert des Romans zum Störfaktor. Es waren die Romantiker, die sich zuletzt gegen den Roman stellten, und zwar mit dem verwandten Genre der Novelle. Auch sie ist keine deutsche Erfindung, sie geht vielmehr auf Boccaccio und Geoffrey Chaucer zurück. Während der Roman in seiner geschmeidigen Form den Karnevalscharakter seiner Darstellungen nicht verbergen konnte, passte die Novelle mit ihrer strengen Form und der Hartnäckigkeit, mit der sie ihre Botschaft vermittelte, viel besser zur deutschen Ernsthaftigkeit des Pfarrhauses. Sie zeichnete nicht ein Gesellschaftsbild, sie leuchtete mit Vorliebe einen Fall aus. In ihr war die Wirklichkeit Fragment, die Figuren aber wurden umso unerbittlicher gestaltet. Diese Figuren hatten sich den Zwängen zu stellen, sie mussten handeln. Eine Novelle entlässt keinen aus der Handlung, ohne dass sein Schicksal besiegelt wäre. Das 19. Jahrhundert stand im Zeichen der Novelle. Eine Riesenanthologie der Novelle reicht vom Sprachvirtuosen Kleist bis zum heute fast vergessenen Paul Heyse, dem deutschen Literaturnobelpreisträger. Die Novelle ist die kleindeutsche Lösung in der Literatur. Man kann aber auch sagen, die Novelle hat deutsche Tugenden aufzuweisen.
Ihr Ende sollte erst im 20. Jahrhundert kommen, in dessen zwanziger Jahren. Die Neue Sachlichkeit machte ihr, nach langer Agonie, den kurzen Prozess. Erst mit dem Niedergang der Novelle begann der langsame Aufstieg des deutschen Romans. Von Theodor Fontane bis Wolfgang Koeppen.
Die gelungenen Romane des 20. Jahrhunderts sind allesamt Beispiele für das Zusammenwirken von Unterhaltungswert und Ernsthaftigkeit. Trotzdem gibt es weiterhin die Unterscheidung zwischen E und U. Selbst wenn ihr der Gegenstand abhandenkommen sollte, die Unterscheidung wird bleiben. Welcher Deutsche lässt sich schon gern sagen, dass er ein Buch liest, allein um sich zu unterhalten? Er möchte schließlich eine Anerkennung dafür, dass er sich lesend am Buch abarbeitet. Der deutsche Leser liest zwar nicht mit dem Bleistift in der Hand, aber im Geist macht er sich Notizen. Wenn man ihn so vor Augen hat, quasi mit seinem Nachtkästchen-Bleistift und dem guten Buch dazu, kommt einem unwillkürlich der Gedanke, Lesen sollte man von der Steuer absetzen können, nein, nicht nur die Bücher, die man liest, sondern die Lektüre selbst.
Und Julia, unsere Gute-Bücher-Leserin? Ihr hat man zwei Listen zugesteckt, sagen wir, von Facebook-Freunden. Welchen Roman wird sie wählen?
>Buchdruck, Feierabend, Kulturnation, Musik, Pfarrhaus, Sehnsucht
Fachwerkhaus
Wir haben uns in ein Fachwerkhaus, Baujahr 1500, verliebt. So das ältere Paar, das ich schon ein halbes Leben kenne. Wenn sie alle paar Jahre vorbeischauen und in irgendeiner Sache »wir« sagen, »wir haben«, weiß ich, es geht ihnen gut. Während sie von ihrer neuesten Angelegenheit sprechen, von ihrer Entdeckung des Fachwerkhauses, haben sie unverkennbar einen Glanz in den Augen. Es ist ein bisschen wie bei Leuten, die erst kürzlich einer Freikirche beigetreten sind und soeben jemanden getroffen haben, der sich ihre Bibelauslegung anhört. Sie leben, wie wir alle, mit der Vergänglichkeit, lernen aber immer noch was dazu, bevor es verloren geht. Sie sind der grundversorgte Mittelstand, der sich das schönere Denken leistet und Deutschland in der Balance hält.
Jetzt suchen sie einen Fachmann, der das Haus für sie besichtigen könnte, bevor sie es kaufen werden. Einen, der sich mit der Fachwerkbauweise auskennt. Mit Ausfachung, Füllung, Gaube, Handlauf, Laibung, Lochfraß und Schüttung.
Man kann das Fachwerk nüchtern als Bauweise betrachten und es dabei belassen. Auch unter dem Aspekt des Technischen ist es üppig beschrieben. Mit dem, was im Buchhandel zur Verfügung steht, könnte man sich jederzeit eine Fachwerk-Handbibliothek anlegen. Das ist aber nicht nötig. Die einschlägigen Baufirmen, die die Handwerkstradition pflegen, sind mit Rat und Tat dabei, falls man selbst bauen möchte.
Es geht beim Fachwerk um eine wahrhaftig uralte Bauweise. Sie ist viel älter als beispielsweise die deutsche Nation. Die Spur ihrer Technik verliert sich in weit zurückliegender Geschichte, dort, wo diese noch Geschichtslosigkeit ist. Sie fußt auf einem Urmuster des Hauses, das seine Form
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