Die deutsche Seele
Bahnsteigkarte wieder einführen.
Übrigens diskutiert man nicht über die Bahn, man diskutiert über die Zukunft der Bahn. Als gebe es immer noch das Kursbuch als Fahrplan und das Kursbuch als Zeitschrift der kritischen Intellektuellen der Republik. Beides gibt es so nicht mehr.
Also folgen wir in schlaflosen Nächten den Führerstandsfahrten auf den schönsten Strecken Deutschlands und der ganzen Welt und träumen von der eigenen Lok. Als wären wir Jim Knopf und Lukas und Emma und Molly, und als befänden wir uns auf der Strecke der Bäderbahn, von Kühlungsborn nach Doberan, und würden, wie man so schön sagt, uns neu erfinden.
Um dann, gegen Morgen, wieder wach zu sein, im Kopf die Wörter von früher: Kurswagen, Bummelzug, Großer Bahnhof. Jim Knopf vergrößert Lummerland, Lukas kümmert sich um Emma, und die hat plötzlich ihre Molly. Denn wenn es gar nicht mehr weitergeht, wird eine kleine Lok geboren. Und schon geht’s voran auf der Mollybäderbahn. Zur Kur und überhaupt.
► Fahrvergnügen, Gemütlichkeit, Gründerzeit, Männerchor
E(rnst) und U(nterhaltung)
Julia, die vor dem Schlafengehen noch in einem guten Buch lesen möchte, könnte durchaus eine Figur der Werbung sein, ist es aber nicht. Julia ist eine Leserin aus dem richtigen Leben. Was sie aber unter einem guten Buch versteht, das kann vieles sein. Es muss gut geschrieben sein. Damit meint unsere Julia ein Buch, das sie weder unter- noch überfordert. Julia arbeitet in einem Anwaltsbüro, wo sie den ganzen Tag über Schriftsätze hin- und herreicht. Man kennt im Büro ihre Leidenschaft für die schöne Literatur. Ab und zu wird sie auch nach einem Buchtipp gefragt. Meistens aber orientieren sich die Anwälte an den Rezensionen in der Zeitung. Als Anwalt liest man das Feuilleton. Dort aber ist, trotz aller gegenteiligen Behauptungen, die Welt der Lektüren immer noch geteilt. Als Anwalt zeigt man sich gelegentlich in der Oper und man erzählt nebenbei auch mal von dem Buch, das man gerade liest, und von dem Bild, das man gestern erst gekauft habe. Einen Daniel Richter.
Julia könnte im Übrigen auch in einer Arztpraxis arbeiten. Auch die Ärzte gehören zu den Lesern. Wenn die Anwälte aber an der Sprache interessiert sind, weil diese in ihrem Fach das entscheidende Instrument stellt, sowohl zur Bekräftigung eines Sachverhalts als auch bei seiner Entkräftung, geht es bei den Ärzten um die Menschenkenntnis. In den Augen der Ärzte gibt die Literatur über die Eigenschaften des Menschen Auskunft. Beide, der Anwalt wie der Arzt, nehmen die Sache mit der Kunst sehr ernst. Für zwei Dinge haben sie gar kein Verständnis: Wenn Vandalen sich im Yachthafen an ihrem Segelboot vergreifen und wenn ihnen ein Vampirroman empfohlen wird.
Um die Unterscheidung von E(rnst) und U(nterhaltung) kommt man im bürgerlichen Deutschland selbst im Zeitalter der Love-Parade nicht herum. Was für eine Musik man hört, und welcher Art der Roman ist, den man gerade liest, ob es sich um ernste Musik handele oder nicht doch um einen Unterhaltungsroman, sind unumstößliche Kriterien bei der Einschätzung der neuen Bekanntschaft oder des neuen Mitarbeiters. Der Mittelstand hängt an Bildung und Knigge, Geld zählen kann schließlich jeder.
So hat man für derlei Situationen das entsprechende Verhalten parat, man weiß, was man sagen darf und was man besser für sich behält. Auch wenn man sich nicht auskennt, und bei den Neuerscheinungen schon gar nicht, sollte man in jedem Fall eine dezidierte Meinung beisteuern können.
Regel Nummer eins: Bücher von der Bestsellerliste nur ausnahmsweise nennen. Nur wenn man sicher ist, dass es sich um einen Titel handelt, den der reine Zufall oder eine Kollektivlaune der Leserschaft an den Pranger der Meistverkauften gestellt hat.
Will man hingegen sichergehen, dann nimmt man sich die Bestenliste des SWR vor. Diese richtet sich nicht nach den Verkaufszahlen, sondern nach dem Geschmack einer Jury aus dem eisernen deutschen Feuilleton. So viel zum Neuen. Zur Neuerscheinung, wie die Branche es nennt.
Es wird aber an den Espressotheken des Kulturbetriebs nicht nur von der laufenden Produktion die Rede sein. Immer gut, wenn man einen Gedanken an die Großen der Literaturgeschichte verschwenden kann, wenn man etwas über Kafka zu sagen weiß, über Goethes Wilhelm Meister und, warum nicht, über den großartigen, gerade erst wiederentdeckten Johann Fischart, den ersten deutschen Kenner des Rabelais. Man scheue sich
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