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Die deutsche Seele

Die deutsche Seele

Titel: Die deutsche Seele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thea Dorn
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immer ein schnödes »Reich der Notwendigkeit« geben wird, weshalb das »Reich der Freiheit« erst nach Feierabend beginnen kann. Mitte der sechziger Jahre wird die Sechs-Tage-Arbeitswoche schrittweise auf eine Fünf-Tage-Arbeitswoche reduziert. Im April 1968 wird die DDR-Verfassung, die von Anfang an das Recht eines jeden Bürgers auf Arbeit kennt, um das Recht auf »Freizeit und Erholung« erweitert. Der SED-Staat verspricht bzw. droht, »durch den planmäßigen Ausbau des Netzes volkseigener und anderer gesellschaftlicher Erholungs- und Urlaubszentren« den Rahmen für die verfassungsgetreue Freizeitgestaltung bereitzustellen.
    Daneben entsteht ein Alltagsspaßangebot, das in der Fürsorgediktatur jedoch nicht so anders aussieht als jenseits des Eisernen Vorhangs: Noch bevor in der Bundesrepublik der »Holiday-Park« seine Tore öffnet, wird 1969 im Berliner Plänterwald ein großer Vergnügungspark eingeweiht. Die Attraktionen heißen hüben wie drüben: Riesenrad, Achterbahn und Zuckerwatte. Einzig durch Namensgebungen wie »Kosmosgondeln« oder »Sputnik« (»originell und schnell«) versucht man, den sozialistischen Anstrich zu wahren - und die kalkulierten Adrenalinstöße sind billiger zu haben als im kapitalistischen Westen.
    Von der großen »Alternative«, der »Aufhebung der Entfremdung« und der »Selbstverwirklichung der Persönlichkeit in allen Dimensionen menschlicher Aktivität« träumen nur noch Reformkommunisten wie Rudolf Bahro, deren Forderung nach einer zweiten »Kulturrevolution« im Sozialismus bei den SED-Funktionären allerdings auf gereizte Ohren stößt. Eine offizielle Studie des Ostberliner Kulturwissenschaftlers Helmut Hanke aus dem Jahre 1979 ergibt, dass die östliche Sofa-Kartoffel ihren Feierabend am liebsten genauso verbringt wie die westliche Couch-Potato: Füße hoch, Fernseher an, Bierflasche auf. So gern das »bessere Deutschland« seine kulturelle Überlegenheit über das amerikanisch verflachte Westdeutschland behauptet: Diejenigen, die abends zusammenkommen, um sich Hölderlin vorzulesen, bleiben auch dort die Bewohner einer kleinen Nische.
    Aus der Feierabendgestaltung seiner Bürger hält sich das wiedervereinigte Deutschland so vornehm heraus, wie es sich für einen liberalen Staat gehört.
    (Nur bei den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten redet es hin und wieder ein Wörtchen mit - aber das ist eine andere Geschichte.) Dafür gibt es heute in Bremen einen internationalen Studiengang »Angewandte Freizeitwissenschaft«, den man sogar mit einem Bachelor of Arts abschließen kann, um baccalaurierter »Eventmanager«, »Wellnessberater« oder »Tourismusplaner« zu werden. Und Horst W. Opaschowski, der freundliche Zukunftsforscher und Politikdauerberater, hat die akademische Welt um die schöne Disziplin der »Freizeitsoziologie« bereichert, die sich mit »Determinationszeit«, »Obligationszeit« und »Dispositionszeit« beschäftigen darf.
    Früher bedeutete Feierabend schlicht und einfach: Einkehr, Entschleunigung - des Tages Tretmühlen stehen endlich still. Ist es im Grunde nicht immer noch jener altdeutsche Abendfriede, den der gestresste Zeitgenosse sucht, wenn er um 19 Uhr die Yoga-Matte schultert und ins nächste Sportstudio hetzt, um dort bei Pranayama-Atmung und Sonnengruß »runterzukommen«? Vielleicht versucht er es am nächsten Feierabend einfach damit, sich in den heimischen Lehnstuhl zu setzen und ein Gedicht von Joseph von Eichendorff zu lesen:
     
    »Schweigt der Menschen laute Lust: Rauscht die Erde wie in Träumen Wunderbar mit allen Bäumen, Was dem Herzen kaum bewusst, Alte Zeiten, linde Trauer, Und es schweifen leise Schauer Wetterleuchtend durch die Brust.«
     
    >Abendbrot, Abendstille, Arbeitswut, Bierdurst, Fussball, Gemütlichkeit, Männerchor, Musik, Schrebergarten, Vereinsmeier

Forschungsreise
     
    Seit das Internet den Zeitbegriff bestimmt, hat alles, womit man rechnet, den Charakter einer Last-Minute-Aktion angenommen. In 80 Tagen um die Welt zu kommen war einmal eine kühne Schriftstelleridee. Heute wäre es bestenfalls eine Entschleunigung. Und damit wieder etwas, was Sinn ergeben würde?
    Die aktuelle Reise ist in den meisten Fällen nichts weiter als ein Katapultieren von einem Ort an den anderen. Die Betrachtung der Welt vollzieht sich im Schnelldurchlauf. Man kann nichts mehr versäumen, man kann es nur unterlassen.
    Alles, das ganze Drum und Dran, ist perfekt hergerichtet, die halbe Welt ist buchbar und mit dem bloßen Auge

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