Die deutsche Seele
Schlimme dabei ist nur, dass er dann überhaupt niemals dazu gekommen ist, aus eigener Kraft seelische Nöte zu überwinden und aus dieser Überwindung innerlich zu wachsen. Er wird seelisch ein vollkommenes Weichtier, so wie ein Mensch, der sich immer in der Sänfte tragen lässt und sich gegen Wind und Wetter in Pelze hüllt, körperlich ein Weichling wird, und wenn er täglich heldenhaften Wettkämpfen zusieht.«
Anders als die Marxisten glaubt der Sozial-Hygieniker jedoch nicht daran, dass erst der Kapitalismus abgeschafft werden muss, um dem modernen Menschen wieder die Tore zum echten Feierabend zu öffnen. Zwar bescheinigt auch Neubert der Industrialisierung, dass sie die Arbeit entseelt und das Hirn mechanisiert, dennoch beschreibt er ihre Janusköpfigkeit anders: »Die Maschine […] gibt Freizeit an viele Menschen, aber verlangt sie auch.« Es muss nur gelingen, die »Entartung der Erholung« durch die Urbanen Amüsierbetriebe rückgängig zu machen. Von einem revolutionierten Freizeitverhalten verspricht sich Neubert eine Gesamterneuerung des Lebens hin zu größerer seelischer und körperlicher Gesundheit, zu mehr Eigenständigkeit: »Wenn wir immer mehr Menschen dazu bringen können, ihre Erholungszeit selbst in die Hand zu nehmen und sie auszunützen zur Willensstärkung und zum Wachstum ihrer Seele, dann kann von hier aus auch in diesen Menschen die Kraft aufwachsen, nun ihr ganzes Leben in die Hand zu nehmen und zu formen.« Dazu tut allerdings eine »systematische Erziehung« der »unerzogenen Massen« Not: statt Sportpalast Ausgleichsgymnastik; statt Variete Volkshochschule; statt saufen Muße pflegen; statt Kartenkloppen gesellige Spiele im Schillerschen Sinne, dass der Mensch »nur dort ganz Mensch [ist], wo er spielt«.
Im »Dritten Reich« tritt Neubert in die NSDAP ein - obwohl er in der gleichgeschalteten Massenbespaßung, wie sie die Organisation »Kraft durch Freude« mit ihren »bunten Abenden« und sonstigen Großveranstaltungen betreibt, keine Verwirklichung seiner Ideen sehen dürfte. Das »Amt Feierabend«, das 1936 innerhalb der KdF-Organisation eingerichtet wird und unter der Parole »Feierabend auf der Autobahn« Tonfilmwagen, Schlagersänger und eine eigens geschaffene »Reichsautobahnbühne« im Sonderbus kreuz und quer durchs frisch asphaltierte Reich schickt, müsste ihm ein Graus sein.
In der Frage, wie das richtige »Feierabendwerk« auszusehen hätte, sind die braunen Reihen allerdings nicht so fest geschlossen, wie sie sich gern präsentieren: Alfred Rosenberg, einer der einflussreichsten Nazi-Ideologen, ist kein Freund der »Rummelbewegung«, wie sie die KdF-Organisation ankurbelt. In seiner Zeitschrift Volkstum und Heimat lässt er 1934 gegen all diejenigen polemisieren, die »ihre Freizeit nicht mehr als Feierabend erleben können« und sich stattdessen »der Vergnügungsindustrie anvertrauen«.
Auch wenn es die braunen und edelroten Verächter der Vergnügungs-/Kulturindustrie nicht explizit aussprechen: Ihre Ablehnung des vertingelten Feierabends ist in erster Linie eine Ablehnung des amerikanisierten Feierabends. Es ist kein Zufall, wenn ein Sprachfeinschmied wie Adorno die englischen Begriffe »Fun« oder »hobbies« stehen lässt, um das noch falschere im ohnehin schon falschen Leben zu bezeichnen.
In der Bundesrepublik, im Zeichen der Reeducation, ist der Siegeszug des Feierabends american style nicht mehr aufzuhalten, auch wenn bildungsbürgerliche Kritiker wie Karl Korn, einer der Gründer und langjähriger Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, unvermindert gegen die »Kulturfabrik« wettern.
In der DDR wird der Feierabend zum zwiespältigen Problem. In den fünfziger und sechziger Jahren dominiert der erziehungsdiktatorische Gedanke: Auch die Freizeit soll der Entwicklung der »sozialistischen Persönlichkeit« dienen - Goethe muss dafür ebenso herhalten wie der Gesang im Arbeiterchor. Ein Junger Pionier meldet sich in seiner Freizeit nicht zum Flippern, sondern zum Ernteeinsatz. In gut kulturkonservativ-vergnügungsfeindlicher Tradition wird die bloße Zerstreuung verachtet als ein Rauschmittelchen, das der neue Mensch nicht mehr nötig habe. Doch so wie Karl Marx von seinem jugendlichen Traum abrückt, in der kommunistischen Gesellschaft sei der Gegensatz von Arbeit und Freizeit aufgehoben, weil der unentfremdete Arbeiter sich in allem, was er tut, jederzeit selbst verwirkliche, erkennt auch die DDR in der zweiten Hälfte ihres Lebens, dass es
Weitere Kostenlose Bücher