Die deutsche Seele
wahrzunehmen. Man wirft uns Oberflächlichkeit vor, aber in Wahrheit ist es die Auswahl unserer Vorlieben, die uns zu Touristen werden lässt. Man kann das Typische buchen und genauso gut das Untypische. Das meiste jedoch, was man auf einer Reise heute in Erfahrung bringen kann, sieht man auch auf YouTube und Google Earth. Der Deutsche ist gern Tourist, und das trotz seines Computers. Der Deutsche ist Weltmeister, auch in Sachen Tourismus.
Die Reise ist mittlerweile ganz und gar dem Reiseziel untergeordnet, dem Reisezweck, es sei denn, man entscheidet sich für eine Kreuzfahrt. Dann aber ist man auf dem Schiff und in der Welt des Schiffs, man ist Teil des Programms. Dieses hat mit den Längen- und Breitengraden, an denen man sich gerade aufhält, recht wenig zu tun. Wo der Äquator tatsächlich verläuft, weiß nur das Messgerät, und selbst die nahenden Boote der Seeräuber lassen einen für den Augenblick denken, die bevorstehende Geiselnahme sei Teil des Programms.
In der besserwisserischen Zeit, in der wir leben und nicht wissen wollen, woher plötzlich die Seeräuber wiederkehren, wurde die Erfahrung durch das Erlebnis abgelöst. Früher, als das Reiseziel noch ein unbekannter Ort sein konnte, und Samarkand sich noch nicht um die Austragung des Eurovision Song Contest bewarb, gingen die Menschen aus ganz anderen Gründen auf die Reise als heute. Es gab noch was zu entdecken, und das, was es zu entdecken gab, »Amerika«, lag noch außerhalb des eigenen Kopfes.
Nun ist »Amerika« entdeckt. Die Vermessung der Welt hat stattgefunden.
Wir wissen alles und nichts, können uns nicht einmal ein ausreichendes Bild davon machen. Denn was uns zur Verfügung steht, ist Schnappschuss und trotzdem nur Kopie.
Damals aber, als man sich noch ins Unbekannte begeben konnte, und das in der berechtigten Annahme, etwas dabei zu lernen, hatte die Reise zumindest zwei Aufgaben, durch die sie zur Bildungs- und Forschungsreise wurde: Sammlung und Beschreibung.
Jede Nation, die etwas auf sich hielt, hatte ihre namhaften Forschungsreisenden. Vom Seidenstraßen-Erkunder Marco Polo und Louis Antoine de Bougainville, dem ersten Franzosen, der 1766 bis 1769 die Welt umsegelte, bis zu Charles Darwin und David Livingstone, dem schottischen Missionar und Afrikaforscher. Ihre Reiseberichte galten der gesamten Nation.
Bis zum 18. Jahrhundert handelte es sich weitgehend um Einzelgänger, um Ausnahmeprojekte, um Phantasien von Waffenbrüdern, Klerikern, Kaufleuten und anderen Abenteurern und deren Geldgebern. Was wäre Kolumbus ohne den kastilischen Hof?
»Lange wäre Amerika mit allen seinen Schätzen unentdeckt geblieben, wenn sich nicht ein Columbus durch seine Standhaftigkeit und edle Schwärmerey, trotz aller Hindernisse, die ihm Neid und Unwissenheit in den Weg legten, zu Ferdinand und Isabellen gleichsam hingedrängt hätte«, schreibt Georg Forster im März 1777 in London. Von ihm wird noch die Rede sein.
Zur öffentlichen Aura, zur Staatsräson, kam die Forschungsreise mit dem Aufstieg der Naturwissenschaften. Zunächst galt es, die unbekannten Territorien, von denen der Abenteurer bis dahin in vielfältiger Weise zu berichten wusste, zu kartographieren. Die Geographie war zu einer der erkenntnisreichsten Wissenschaften aufgerückt. Sie war Erdkunde im Wortsinn. Im ausgehenden 18. Jahrhundert hatte sie allerdings nicht mehr viel zum Weltbild beizutragen. Man war stillschweigend bereits bei den Mineralien angelangt.
Die Forschungsreise galt nun der Beschreibung der Pflanzen- und Tierwelt. Das Reisen wurde so zu einer Form der Erfahrung. Wer sein Ziel erreichte, war bewandert. Er hatte Löwen gesehen. Die Reisebeschreibung erhielt ihren wissenschaftlichen Charakter, den einschlägigen Erfahrungswert, und man begann, sie daran zu messen.
Was in den Jahrhunderten zuvor meist als Zufallsentdeckung oder Begleiterscheinung historisch wurde, bekam nun endgültig seine Zweckgestaltung, die Reise wurde zur Expedition. Die Mitglieder einer Expedition sind nicht auf Vergnügungstour, sie sind im Auftrag unterwegs. Sie erkunden das Terrain, liefern mit jeder Beschreibung auch die Vorlage für die handfeste Intervention. Die Expedition wird so im 19. Jahrhundert zum Vorlauf der kolonialen Besitzergreifung.
Wie die Forschungsreise den Sponsor braucht, so braucht die Expedition ihren öffentlichen Auftraggeber. Ohne einen Macht ausstrahlenden Großstaat keine Expedition. Erst wenn Wirtschaftsinteressen strategisch verstanden werden, verbündet
Weitere Kostenlose Bücher