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Die deutsche Seele

Die deutsche Seele

Titel: Die deutsche Seele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thea Dorn
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folgte dem alternativen deutschen Zeitgeist, indem er sich vegetarisch ernährte, sich für Homöopathie und die anthroposophische Lehre Rudolf Steiners interessierte, naturheilkundliche Sanatorien aufsuchte und seine Morgengymnastik nackt am offenen Fenster trieb. Allerdings war der Prager Schriftsteller ein zu feinnerviger Geist, als dass es ihm gelungen wäre, seine Ängste damit erfolgreich zu übertünchen. Im Jahre 1921 schrieb er an seinen Freund Max Brod: »Und doch ist es nichts als gemeinste Angst, Todesangst. So wie wenn einer der Verlockung nicht widerstehen kann, in das Meer hinauszuschwimmen, glückselig ist, so getragen zu sein, >jetzt bist Du Mensch, bist ein großer Schwimmer<, und plötzlich richtet er sich auf, ohne besonders viel Anlass, und sieht nur Himmel und Meer und auf den Wellen ist nur sein kleines Köpfchen und er bekommt eine entsetzliche Angst […]«
    Kafkas Angst speiste sich nicht allein aus dem Gefühl, zu »klein« zu sein - keinen Platz im Kosmos zu finden; nicht allein daraus, dass er als Jude permanent dem Zweifel ausgesetzt war, ob die Mehrheitsgesellschaft ihn annehmen oder ausstoßen wollte (»Du bist doch Jude und weißt, was Angst ist«); nicht allein aus dem von Hass und Schuldgefühlen befrachteten Verhältnis zum Vater. Einsamkeit, Unentschlossenheit, Unruhe, Richtungslosigkeit, Krankheit, Verlust, Versagen: Alles vertiefte den Krater, den die Angst gerissen hatte. In einem seiner Briefe an Milena - die Beziehung zu ihr siedelte der Schriftsteller ebenfalls ganz im »Gebiet der Angst« an - beschwor er seine Angst als etwas, »was mich willenlos macht, mich herumwirft nach Belieben, ich kenne nicht mehr oben und unten, rechts und links«. Beruf, Familie, Verlobte vermochten keinen Halt zu geben, im Gegenteil. Die einzige Rettung bestand darin, der »gehirnzerreißenden« Angst freien Lauf zu lassen in Erzählungen, in denen die Strafkolonien des Lebens den Einzelnen so zermürbten, dass dieser am Schluss bereit war, die Tatsache, überhaupt zu existieren, als seine große Schuld anzuerkennen: »Seine Meinung darüber, dass er verschwinden müsse, war womöglich noch entschiedener als die seiner Schwester. In diesem Zustand leeren und friedlichen Nachdenkens blieb er, bis die Turmuhr die dritte Morgenstunde schlug. Den Anfang des allgemeinen Hellerwerdens draußen vor dem Fenster erlebte er noch. Dann sank sein Kopf ohne seinen Willen gänzlich nieder, und aus seinen Nüstern strömte sein letzter Atem schwach hervor.« So das Ende des Handlungsreisenden Gregor Samsa, den die Angst in den berühmtesten Käfer der Literaturgeschichte verwandelt hat.
    Auch wenn Kafka in einem anderen Brief an Milena erklärte, dass er aus Angst bestehe, dass sie vielleicht sein »Bestes« und das einzig »Liebenswerte« an ihm sei, darf man dennoch davon ausgehen, dass er Angst hatte vor der Angst. Mut zur Angst wollte erst Martin Heidegger machen. In Anlehnung an Nietzsche und den dänischen Philosophen Sören Kierkegaard erklärte er, dass es nicht Aufgabe der Philosophie sei, den Menschen »frei werden zu lassen von der Angst«, vielmehr habe sie die Pflicht, »den Menschen gerade radikal der Angst auszuliefern«.
    Unter »Angst« verstand Heidegger nicht die konkrete Furcht vor diesem oder jenem, sondern das Gefühl, jegliche Daseinsgewissheit zu verlieren. »Das Drohende kann sich deshalb auch nicht aus einer bestimmten Richtung her innerhalb der Nähe nähern, es ist schon >da< - und doch nirgends, es ist so nah, dass es beengt und einem den Atem verschlägt - und doch nirgends.« Der Autor von Sein und Zeit empfahl in dieser Situation mitnichten den Gang auf die Couch, um sich vom alles verschlingenden Bedrohungsgefühl heilen zu lassen. Im Gegenteil, er riet dem existenzphilosophisch berührbaren Zeitgenossen, sich der Angst rückhaltlos auszuliefern. Nur so erschließe sich noch der Zugang zu einem Sein, das nicht zugestellt sei mit technischen Hilfsmitteln und sozialen Sicherungssystemen, mit all dem »Zeug«, das der moderne Mensch vergeblich ersonnen habe, um sich geborgener zu fühlen in der Welt. Auch wenn Heidegger einen gewissen Kult daraus machte, sich immer wieder in seine rustikale Holzhütte im Schwarzwald zurückzuziehen oder die Teilnehmer von philosophischen Kongressen damit zu brüskieren, dass er zu Vorträgen in Skikleidung direkt vom Tiefschneehang erschien, war er kein simpler Zurück-zur-Natur-Apostel. Seine Zivilisationskritik zielte weniger darauf, die Technik

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