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Die deutsche Seele

Die deutsche Seele

Titel: Die deutsche Seele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thea Dorn
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Museums Ludwig - mit Blick auf den benachbarten Dom - wanderte, nur die Spitze des Angstberges war. Eigenen Angaben zufolge bestand die »Church of Fear« im Jahre 2005 aus 900 Basisgemeinden mit über 20000 Mitgliedern auf fünf Kontinenten. Jeder, der aufgenommen werden wollte, musste zunächst sein persönliches Angstbekenntnis ablegen, »das Bekenntnis dazu, dass man den Lösungs- und Erlösungsversprechungen der selbst ernannten Weltenlenker nicht traut«. Dass man bereit war, einen Linienflug aufzuhalten, indem man unmittelbar vor dem Start »Ich habe Angst!« durch die Maschine brüllte. Nach dem Angstbekenntnis erfolgte die Beförderung zum Säulenheiligen, der seine radikale Angst - die ihn laut Schlingensief zum gesellschaftlichen Außenseiter stempele - mal in venezianischen Gärten, mal an der Frankfurter Hauptwache durch ausdauerndes Pfahlsitzen unter Beweis stellte.
    Man mag die Idee, eine »weltweite Angstkirche« zu stiften, für Kunst oder für den Aktionismus eines Exzentrikers halten, der wenig später an einem tödlichen Lungenkrebs erkrankte und dann auch sein Siechtum öffentlich zelebrierte. Selbst wenn er wie sein verschmitzter Cousin aussah, war Schlingensief nicht der Deutsche Michel. So kopfschüttelnd dieser also vor den Umtrieben des Aktionskünstlers stehen mag - fordert er nicht selbst sofort: »Abschalten!«, wenn am anderen Ende der Welt ein Atomkraftwerk havariert? Glaubt er nicht, dass der ganze Wald stirbt, sobald einige Bäume erkranken? Dass die Deutschen ihrem Ende entgegenwanken, nur weil die Geburtenzahlen rückläufig sind?
    Es gibt keine westliche Gesellschaft, die sich vom medial angetriebenen Hysterie-Kreisel nicht bisweilen schwindlig drehen lässt. Dennoch ist es mehr als transatlantische Herablassung, wenn sich Amerikaner über die »german angst« lustig machen. Der Satz »Ich habe Angst« gilt hierzulande als Argument, und zwar nicht als irgendeines - er besitzt die Wucht einer Letztbegründung. Nur oberflächliche Unmenschen wollen darüber diskutieren, ob die Angst eine reale Quelle hat, sich auf eine konkrete, unmittelbare Bedrohung bezieht, oder dem gleicht, was der Psychoanalytiker als »Angstneurose« bezeichnet. Wer Angst empfindet, ist im Recht. Wer unbeirrt an seiner Angst festhält, obwohl es nüchterne Gründe gäbe, sich von ihr zu verabschieden, beweist Charakterstärke.
    Der Verdacht drängt sich auf, dass dieser deutsche Sonderweg wie so viele nach Wittenberg führt. Doch ist es im Falle der Angstbeseeltheit nicht ganz einfach, Martin Luther haftbar zu machen. Zwar war er überzeugt, dass die Welt reif sei für das Jüngste Gericht, und witterte den Antichristen an jeder Ecke - mal in Gestalt des Papstes, mal der Türken, der Juden oder der aufständischen Bauern von 1525 -, mit konkreten apokalyptischen Drohgebärden hielt er sich jedoch zurück. Der Reformator öffnete der Angst ein anderes Tor: Indem er die rituellen Vermittlungsinstanzen, die die Papstkirche zwischen Gott und dem Gläubigen eingerichtet hatte, abschaffte, ließ er den einzelnen Christenmenschen allein mit seinem Gott. Das verschaffte den Vorteil, eine innigere Nähe zum Herrn zu verspüren - andererseits war es aber auch Furcht einflößend, dass die irdischen Hirten das verschreckte Schaf nun nicht mehr der göttlichen Gnade versichern konnten, wenn es nur fleißig Rosenkränze betete, Ablassbriefe kaufte und Wallfahrten machte. Sola fide. Die Intensität seines eigenen Glaubens, die Glut seiner eigenen Reue waren und sind für den Protestanten die einzigen Anhaltspunkte, dass er auf dem Weg zum Heil ist. Je flammender er beides empfindet, desto besser.
     
    »Mein Heyland! was wird’ ich beginnen! / Ich gantz mit Lastern überhäufft, / In tieffsten Unglücks-Schlam vertäufft. / Jetzt wird’ ich meiner Boßheit innen / Jetzt wird’ ich durch mich selbst erschreckt: / Indem mich deine Gnad’ auffweckt. / Und mir, wie hoch ich dich verletzet / Und hart erzörnt vor Augen setzet.« Mit diesen inbrünstigen Versen drückte der Dichter und Protestant Andreas Gryphius die Hertzens-Angst eines bußfertigen Sünders aus. Das »mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa« des katholischen Schuldbekenntnisses klingt daneben wie ein Capri-Schlager.
    Im 17. Jahrhundert, dem Zeitalter von Gryphius, bekam die deutsche Angst einen weiteren mächtigen Lehrmeister: den Dreißigjährigen Krieg. Man muss kein Neurotiker gewesen sein, um in dieser Epoche das Fürchten zu lernen. Nur ein Haudrauf wie

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