Die deutsche Seele
Feste sind«. Unter »Fest« soll hier nicht unbedingt die nächste Betriebsweihnachtsfeier verstanden werden, sondern das »Fest«, das ahnt, dass es Selbstverschwendung ist, dass es rauschhaft entgleiten kann.
Jünger war seit zwölf Jahren tot, als im Sommer 2010 bei der Love-Parade in Duisburg 21 Menschen starben und mehr als 500 verletzt wurden. Hätte er noch gelebt, hätte er womöglich gefragt, ob just jene Art der (miserabel) organisierten Massenbespaßung den Verlust wert gewesen sei. Seine Schiller-Wallensteinsche Grundüberzeugug »Und setzet ihr nicht das Leben ein, / Nie wird euch das Leben gewonnen sein« wäre durch die Katastrophe nicht erschüttert worden.
Der gravierendste Wandel, den die Deutschen nach den Desastern des Nationalsozialismus in ihrem Selbstverständnis vollzogen haben, lag in der Abkehr von der Todesverachtung, die allen Generationen zuvor beigebracht worden war. Niemand darf mehr von mir verlangen, dass ich mein Leben für ihn, fürs Vaterland, aufs Spiel setze. Darin liegt ein immenser Freiheitsgewinn. Wenn mir aber von allen Seiten eingeflüstert wird, mein Leben vor mir herzutragen wie ein rohes Ei, finde ich mich in neuen Angstfesseln wieder.
Der radikale Wechsel von Todesverachtung zu Todesverleugnung hat die deutsche Seele in eine weitere Schieflage gebracht. Rührt unsere größere Angstbereitschaft nicht auch daher, dass wir - anders als andere zivilisierte Nationen wie Frankreich, Großbritannien oder die USA - nie wieder schuld daran sein wollen, dass ein Mensch stirbt? Selbst dann nicht, wenn es darum ginge, Freiheit und Menschenrechte zu verteidigen? Dass aus einem in seiner Geschichte mal mehr, mal weniger, mal extrem militaristischen Volk die Speerspitze des weltweiten Pazifismus geworden ist? Aus den barbarischen Verbrechen, die die Nationalsozialisten im Namen Deutschlands begangen haben, haben wir den Schluss gezogen, dass wir nie wieder Täter sein dürfen. Beschert uns das aber nicht im Gegenzug die diffuse Angst, fürderhin ausschließlich Opfer sein zu können?
Von Ernst Jünger stammt die Feststellung, dass »dieselben Menschen nicht nur ängstlich, sondern fürchterlich zugleich« seien. Die bundesrepublikanische Wirklichkeit bis heute scheint dem zu widersprechen. Wir haben uns in unseren Ängsten so gut eingerichtet, dass sie uns bislang lediglich Windkraftparks bescheren und die NATO-Partner regelmäßig vor den Kopf stoßen. Eine neuerliches Umkippen der »german angst« in Aggression ist nicht in Sicht.
Eine zentrale Angst, die die Deutschen in Kriege, vor allem in den Ersten Weltkrieg hineingetrieben hat, war das Gefühl, umzingelt zu sein. Eine Angst, die in einem Land, das sich seiner inneren und äußeren Grenzen nie sicher sein konnte, sondern flechtenartig wuchs und schrumpfte, verständlich war. Diese Angst ist durch die endgültige Anerkennung, dass die Ostgebiete nicht mehr zu Deutschland gehören, die Wiedervereinigung und die Einbettung in die Europäische Union zur Ruhe gekommen. Was aber, wenn sich das wirtschaftlich zerrissene Europa als weniger stabiles Gebilde erweisen sollte, als wir es derzeit noch hoffen dürfen?
Ohne die beliebteste neudeutsche Angst - die Angst der Deutschen vor sich selbst - schüren zu wollen, sei festgehalten: Besser wäre es, die Angst aus der Politik herauszuhalten, keine Sicherheiten dort zu behaupten, wo sie nicht zu behaupten sind (von der Rente bis zur Atomkraft), und keinen Zweifel daran aufkommen zu lassen, dass Deutschland die Europäische Union will und militärisch zum Westen gehört.
Angst soll dichten. Angst soll singen. Mag die Furcht vor diesem und jenem lautstark auf die Barrikaden gehen, um Ausschau zu halten nach einem, den sie haftbar machen kann, nach einem, der die Furcht abstellt. Wahre Angst ist still. Sie weiß, dass sie es mit Nichts zu tun hat. Und wem das Schwarz vor den Augen gar nicht mehr weichen will, der gehe in die Kirche und suche Trost unter den schwarzen Flügeln, die sein Pfarrer ausbreitet.
>Abgrund, Bruder Baum, Doktor Faust, Grenzen, Krieg und Frieden, Ordnungsliebe, Puppenhaus, Reinheitsgebot, Das Unheimliche, Waldeinsamkeit, Das Weib, Wiedergutmachung
Grenzen
»Was mich betrifft: Ich habe jahrelang in der Schweiz gelebt und fühle mich dort wie zu Hause. Ich war mit einem Italiener verheiratet und habe gerne in Italien gelebt. Alle diese Umstände haben bewirkt, dass ich ganz frei bin von einseitigem Nationalismus. Aber national fühle ich durchaus.« Mit
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