Die deutsche Seele
es die »DDR« in Anführungsstrichen, und Polen gab es in so manchem Kopf gar nicht.
Die anderen, die Jüngeren, die geschichtslosen, dachten sich bald überhaupt nichts mehr beim Blick auf die Landkarte. Für sie war es der Straßenatlas, und für sie war Deutschland die Bundesrepublik. Nicht mehr, aber auch nicht weniger?
Kennzeichnend für Deutschland ist seine ungesicherte territoriale Form nicht erst seit der Nachkriegszeit. Frankreich zeigt seit nunmehr tausend Jahren in etwa die gleiche Figur auf der Landkarte, von Spanien nicht zu reden. Selbst von Italien hat man bei aller politischen Zerrissenheit auf dem Globus eine klare Vorstellung. Deutschland hingegen hat seine Form unentwegt verändert. Durch seine Teilung nach dem Zweiten Weltkrieg in einen Ost- und einen Weststaat, wobei nur der Weststaat als Nachfolgestaat des Deutschen Reichs galt, kam es der Selbstauflösung so nahe wie nie zuvor in seiner Geschichte.
Und doch. War dieses Deutschland als Bundesrepublik nicht auch in die Lage des mittelalterlichen »Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation« versetzt? Ausschlaggebend für jenes verwirrend verschachtelte Staatswesen war seine Nord-Süd-Achse, die Karl der Große von Aachen nach Rom gelegt hatte, indem er die Kaiserkrönung dem Papst anvertraute. Das war im Jahr 800. Er wertete mit seiner Geste das kommende, schwache Staatsgebilde kulturell immens auf und legte gleichzeitig den Grundstein zum Investiturstreit, der der Machtfrage eine institutionelle Dynamik verlieh. Aus der Frage, wer Amt und Würde vergibt, der Papst oder der Kaiser, erwuchs ein Konkurrenzphänomen, das nur durch Institutionen funktionsfähig gemacht werden konnte. Wo Papst und Kaiser sich nicht einigen konnten, waren plötzlich Kurfürsten und Bischöfe meinungsbildend tätig. Es entstand so eine dritte Potenz, der Reichstag.
Dieser später wenig geschätzte Mechanismus, ein »Durcheinander verrotteter Reichsformen und unfertiger Territorien«, wie Preußens Chefhistoriker Heinrich von Treitschke es sah, aber hatte einen Bestand von eintausend Jahren, und ist auch zuletzt nicht an sich selbst gescheitert, sondern an Superstar Napoleon. In Ricarda Huchs Worten: »Das Alte Reich konnte eine Hauptstadt nicht haben, denn sein Haupt, der Kaiser, hatte keinen festen Sitz, sondern wanderte, wenn er nicht Krieg führte, von Ort zu Ort, um seiner höchsten Aufgabe zu genügen, nämlich Recht zu sprechen. Die Kaiser waren keine Monarchen in dem später aufkommenden Sinne und das Alte Reich kein Fürstentum nach heutigem Begriff; eher könnte man es ein Gottesreich nennen, mit einem Richter an der Spitze, dem das Volk sich freiwillig unterwarf, wie der Mensch sich Gott unterwirft.«
Die Abschottung des Ostens hinter Mauer und Eisernem Vorhang machte die Nord-Süd-Achse in der Nachkriegszeit wieder zum zentralen Ordnungsprinzip der deutschen Staatsangelegenheiten. Die Fixpunkte waren diesmal das Provisorium Hauptstadt Bonn und die Römischen Verträge von 1956, die den Anfang der EU markieren.
Dieses Prinzip, das den Grundstock der Zugehörigkeit zum Abendland bildet, war im Hochmittelalter durch die Ostkolonisation erweitert worden.
Durch die Ostkolonisation bekam Deutschland als Reich eine Ost-West-Achse, von den Niederlanden bis Ostpreußen und nach Schlesien. Diese Ost-West-Achse wurde im Ergebnis des Zweiten Weltkriegs praktisch annulliert.
Durch die neuen Grenzziehungen von 1949 hat Deutschland ein Drittel seines Territoriums eingebüßt. Darüber hinaus mussten zwölf Millionen Flüchtlinge und Vertriebene vor allem im westlichen Kernland aufgenommen werden. Das erwies sich gleichermaßen als eine moralische wie logistische Leistung. Das vereinigte Deutschland von heute spricht davon, auch nach zwanzig Jahren, immer noch zögerlich. Man bleibt lieber im Ungenauen, als sich der ganzen Wahrheit zu stellen, und das ist auch nicht ungewöhnlich.
Es beginnt damit, dass man das Territorium der ehemaligen DDR als Ostdeutschland bezeichnet. Historisch ist das Gebiet der DDR überwiegend Teil Mitteldeutschlands gewesen.
Ostdeutschland gibt es nicht mehr. Es ist im Zweiten Weltkrieg untergegangen. Ostdeutschland liegt in Polen, in Tschechien oder, wie Königsberg, im Nichts. In Ostpreußen, in den Filmen des Volker Koepp (angefangen mit Kalte Heimat von 1995), in der kollektiven Imagination. Königsberg kann nicht restlos aus dem Gedächtnis verschwinden, wenn Kant darin einen festen Platz haben soll. So bestimmen nicht nur
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