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Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch

Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch

Titel: Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Großbongardt
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ein ganz neues Bild frei: das einer geschichtsträchtigen Provinz mit immensem kulturellem Reichtum. Diese multiethnischen Traditionen waren doch für uns verschwunden, sie werden nun als Schatz geborgen.

    SPIEGEL: Also eine wirkliche Neuentdeckung Ostpreußens?
    KOSSERT: Absolut. Wir betrachten die Landschaften des östlichen Europas gänzlich neu. Wir entdecken zerstörte Lebenswelten, etwa die jüdische Kultur in Galizien, Bessarabien, wir blicken nun auf Landschaften, die viele jahrzehntelang komplett ausgeblendet hatten.
    SPIEGEL: Aber verdrängen wir mit der Kulturseligkeit nicht zum Beispiel, dass gerade in Ostpreußen überwiegend nationalsozialistisch gewählt wurde?
    KOSSERT : Das ist ja mittlerweile hinlänglich bekannt. Aber auch die Tradition des liberalen Ostpreußen des Vormärz wurde vergessen. Vieles, was im Vorfeld der Paulskirche, der Demokratiebewegung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stattfand, kam aus Königsberg.
    SPIEGEL: Die Zustimmung zu den Nationalsozialisten war in Ostpreußen aber höher als sonst im Reich – bei den letzten beiden freien Wahlen 1932 erhielt die NSDAP in Ostpreußen bis zu zehn Prozent über dem Reichsdurchschnitt.
    KOSSERT: Die Provinz wählte zuvor jahrelang deutschnational. Aber weil die alten Eliten nur an ihre agrarischen Eigeninteressen dachten, kam es seit Ende der zwanziger Jahre zum Bruch zwischen den adligen Gutsherren und den Kleinbauern, die hoch verschuldet waren. Die Nationalsozialisten nahmen sich ihrer Nöte an. Hitler übernahm in Ostpreußen propagandistisch geschickt den Hindenburg-Kult, er reiste mehrmals dorthin und inszenierte sich als der neue Retter Ostpreußens.
    SPIEGEL: Gegen das nationale Idol des Siegers von Tannenberg kamen die Sozialdemokraten nicht an?
    KOSSERT: Reichspräsident Friedrich Ebert fuhr ja auch nach Ostpreußen, er eröffnete die Ostmesse und warb dafür, Ostpreußen wirtschaftlich auf die Beine zu helfen –
vergebens. Die Lage entglitt den demokratischen Kräften. Die paternalistischen Strukturen Ostpreußens machten eine Modernisierung auch im politischen Denken nicht möglich. Hindenburg steht – wie die Dönhoffs, die Lehndorffs, die Dohnas und andere ostpreußische Adelsfamilien in dieser Zeit auch – für das Nichtakzeptieren und schließlich das Scheitern der Weimarer Republik.
    SPIEGEL: Sie geben dem Adel Schuld? Immerhin beteiligte er sich prominent auch am Widerstand gegen Hitler.
    KOSSERT : Die Verschwörung des 20. Juli folgte ja später. Nehmen wir den Kapp-Putsch 1920: Er fand in Ostpreußen die größte Unterstützung. Die fast ausnahmslos adligen Landräte und Provinzgrößen haben daran mitgewirkt. Führende Adelsfamilien unterstützten den »Heimatbund Ostpreußen«, der sich daran beteiligte, die Weimarer Republik nach Kräften zu torpedieren.
    SPIEGEL: Wie kam es zu dem eher schöngefärbten Ostpreußenbild in der deutschen Erinnerung nach 1945?
    KOSSERT : Wer hat unser Ostpreußenbild bestimmt? Sowohl vor dem Krieg als auch bis in die achtziger Jahre waren das fast ausschließlich Adlige – Marion Gräfin Dönhoff, Hans Graf von Lehndorff, Alexander Fürst zu Dohna-Schlobitten, Esther Gräfin von Schwerin. Dadurch haben wir die Vorstellung, dass Adlige durch ostpreußische Landschaften reiten, liebevoll-paternalistisch mit ihren Untertanen sprechen, die Gutsherren sorgen für Ordnung. Viele Menschen in der frühen Bundesrepublik wollten sich nicht mit dem problematischen Erbe auseinandersetzen, sondern mochten solche Bilder, in denen man sich romantisch-nostalgisch einrichten konnte.
    SPIEGEL: Teilen Sie die Ansicht Ihres Historiker-Kollegen Karl Schlögel, dass der Verlust des Ostens außer den Vertriebenen selbst die Deutschen wenig berührt habe?

    KOSSERT: Ich glaube, er hat recht. Die Regionen waren tatsächlich weg, hinter dem Eisernen Vorhang, die konnte man nicht einmal besuchen. In der Nachkriegszeit kamen zwölf Millionen Vertriebene in die vier Besatzungszonen, und es gab drängende soziale Fragen. Gleichzeitig setzte eine Politisierung der Vertriebenenfrage ein. Dadurch wurde die Verarbeitung des kulturellen Verlustes hintangestellt.
    SPIEGEL: Trat das Schicksal der Vertriebenen hinter den Holocaust zurück?
    KOSSERT : Die Aufarbeitung des Holocaust und überhaupt des Nationalsozialismus intensivierte sich erst in den sechziger Jahren. Doch das stand den Belangen der Vertriebenen ja überhaupt nicht im Wege. Vielmehr diente später die Auseinandersetzung um die neue Ostpolitik,

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