Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch
Was dieser heute baut / reist jener morgen ein:
Wo itzund Städte stehn / wird eine Wiesen seyn /
Auff der ein Schäfers-Kind wird spielen mit den Herden.
Ganz auf diesen verinnerlichten Ton gestimmt, ja bis ins Mystische überhöht, klangen die Verse des Arztes und Juristen Johannes Scheffler (1624 bis 1677) aus Breslau. Wie Gryphius hatte er beste Universitäten im Ausland besucht, bevor er daheim Ämter übernahm. Das Schicksal des Lutheraners, der 1653 Katholik wurde und sich als lyrischer Glaubenskämpfer »Angelus Silesius« nannte, vereint vieles von dem, was »schlesische Schule« ausmacht.
Lange hatten Europas Mächte, allen voran die Habsburger, hier an der Schnittstelle von Polen, Sachsen, Böhmen und Ungarn um konfessionelle Vormacht gepokert – bis endlich die Gegenreformation obsiegte, etwa in Gestalt jesuitischer Schulen. Seither mussten gebildete Söhne des protestantischen Großbürgertums sich anpassen oder ins innere, wenn nicht gar äußere Exil gehen.
Religiöse Dispute seit Generationen und der zermürbende Krieg hatten den Sinn für Werte und Worte enorm geschärft. Was die Jesuiten in Schlesien auf katholischer Seite leisteten, fand unter Protestanten seinen Widerpart in der Erbauungslehre des erweckten Schusters Jacob Böhme (1575 bis 1624). Sehnsüchte nach einer heileren Welt, wie die modische Schäferdichtung sie bediente, dann auch manieristische Ideen-Feuerwerke aus Italien und Spanien inspirierten die Poeten; obendrein wurde der Ehrgeiz von überregionalen Dichterbünden angestachelt. Kaum ein Wunder also, dass nach Opitzens Durchbruch bald Kühneres probiert wurde – und wieder weltläufige Schlesier zu den Pionieren zählten.
Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau (1616 bis 1679) aus Breslau hatte schon als Danziger Gymnasiast Opitzens Anerkennung gewonnen; nach vier Jahren Bildungsreise lebte er seit 1642 in seiner Vaterstadt. Verse strömten dem reichen Kaufmann und Ratsherrn unentwegt zu, ob er nun in »Helden-Briefen« Moral auftischte (»Zuchtheimine an Tugenandt«), Italiener und Lateiner übersetzte oder artig eine »Blessine« anschwärmte.
Dass die galanten Reimkaskaden später ausgerechnet zusammen mit den Werken Daniel Caspers von Lohenstein als »zweite Schlesische Schule« verteufelt wurden, war ein Fehlgriff aufgebrachter Gegner. Denn Lohenstein (1635 bis 1683) tat anderes als sein Freund Hoffmannswaldau: Der hochgelehrte Jurist führte Welt- und Sittenlehre an Extremfällen vor, in emotionsgepfefferten Tragödien und im über 3000 Quartseiten dicken Staatsroman »Arminius«.
Leisten konnten sich den freilich die wenigsten – finanziell wie geistig; das enzyklopädische Erzähl-Massiv blieb luxuriöser Feinsinn. Kein Wunder, dass Aufklärer dann solche Werke als vorzeitliche Monster verhöhnten: Noch heute dringen fast nur Wissenschaftler in ihr kniffliges, von Anspielungen durchsetztes Gefüge ein. Trotzdem: Literarisch haben sie, wie auch die Verskunst zuvor, einmal Epoche gemacht – ob das nun noch »Schlesische Schule« genannt werden darf oder nicht.
»Randlage mit Bollwerksfunktion«
Der Osteuropahistoriker Andreas Kossert über den Mythos Ostpreußen, die chauvinistische Vergangenheit und die Wiederentdeckung des kulturellen Reichtums
Das Gespräch führten
Annette Großbongardt und Norbert F. Pötzl.
SPIEGEL: Herr Kossert, stellen Sie sich vor, Geografie in der 10. Klasse, der Lehrer fragt: Wo liegen Palmnicken, Trakehnen und Schwentainen? Was meinen Sie: Wie viele Schüler könnten das beantworten?
KOSSERT: Kaum einer, fürchte ich. Die wenigsten Kinder haben heute noch Großeltern, die ihnen erzählen könnten, dass dies alte Ortsnamen aus Ostpreußen sind.
SPIEGEL: Wer interessiert sich heute überhaupt noch für Ostpreußen – außer den Vertriebenen?
KOSSERT: Es gibt ein neues Interesse an diesen Regionen Mittel- und Osteuropas. Wenn elf Millionen Zuschauer den TV-Film »Die Flucht« sahen, dann können das ja nicht nur 80-jährige Zeitzeugen gewesen sein. Schon mit dem Ende des Kalten Krieges 1990 kam es zu einer regelrechten Wiederentdeckung, vor allem Ostpreußens. Das Land ist uns einerseits ganz weit entrückt, fast entglitten, andererseits haben wir einen emotionalen Bezug zu dieser Landschaft, die etwas in uns anzusprechen scheint.
SPIEGEL: Ist es eine neue Generation, die Ostpreußen für sich entdeckt? Die sogenannte Erlebnisgeneration, die dort geboren wurde, stirbt allmählich aus.
KOSSERT : Das Ende des Kalten Krieges
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