Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch
theologische Fakultät ein mit polnischen und litauischen Sprachseminaren, die erst 400 Jahre später von den Nationalsozialisten geschlossen wurde.
SPIEGEL: Hat Multikulti da tatsächlich funktioniert?
KOSSERT: Erst mal ist es eine Erfolgsgeschichte, dass diese Mischung Jahrhunderte gehalten hat, auch wenn es durchaus ethnische Spannungen gab. Das Herzogtum Preußen betrieb zudem eine sehr restriktive Judenpolitik.
SPIEGEL: Aber schon 1873 wurde die polnische Sprache an Schulen untersagt und allmählich auch aus den Kirchen gedrängt.
KOSSERT : Die Reichsgründung brachte eine fundamentale Wende: Eine Germanisierungspolitik begann, die der Idee eines ethnisch homogenen Nationalstaates folgte. Nationalistisch dachte man damals in ganz Europa. In Ostpreußen aber war es die Aufkündigung dieses jahrhundertealten multiethnischen Konsenses.
SPIEGEL: Auch Ortsnamen wurden nun eingedeutscht wie etwa Zimnawodda in »Kaltenborn« oder Krzywonoggen in »Krummfuß«.
KOSSERT : Es begann in der wilhelminischen Zeit noch relativ behutsam. Allerdings verschärfte bereits Wilhelm II. den Kurs, er wollte den sogenannten Ostmarken ein äußeres »deutsches« Antlitz verschaffen. Alles, was slawisch oder litauisch klang, war nun »undeutsch« und musste weichen.
SPIEGEL: Der deutschnationale Historiker und Reichstagsabgeordnete Heinrich von Treitschke erklärte das »deutsche Ordensland Preußen« schon 1862 zum »festen Hafendamm, verwegen hinausgebaut vom deutschen Ufer in die wilde See der östlichen Völker« – da ist es nicht mehr weit zum »Bollwerk gegen das herandrängende Slawentum«, wie es bei nationalistischen Scharfmachern in der Weimarer Zeit hieß.
KOSSERT : Nun etablierte sich eine kulturelle Überlegenheitsideologie, ein »Kulturkampf« gegen die Slawen, der in Ostpreußen besonders stark ausgeprägt war.
SPIEGEL: Warum nicht in Schlesien?
KOSSERT : Ähnliche Töne gab es auch in Pommern oder in Oberschlesien, aber wegen seiner Randlage ließ sich Ostpreußen die Bollwerksfunktion besonders gut zuschreiben.
SPIEGEL: Im Ersten Weltkrieg wurde Ostpreußen sogar zum Zankapfel zwischen Deutschland und Russland.
KOSSERT : Wie keine andere Provinz des Deutschen Reiches war Ostpreußen Kriegsschauplatz. Nun setzte sich endgültig ein kollektives deutsches Bewusstsein durch. Deutsche Soldaten kämpften in Ostpreußen, und Hunderttausende ostpreußischer Soldaten lagen mit rheinischen und westfälischen Kameraden in Frankreich im Schützengraben – das einte.
SPIEGEL: Der Krieg fing auch gleich mit einem symbolträchtigen Ereignis an, der Schlacht von Tannenberg – die fand aber doch eigentlich bei Allenstein statt.
KOSSERT: General Ludendorff hielt in seinen Erinnerungen fest, das Gefecht sei auf seinen Vorschlag als »Schlacht von Tannenberg« benannt worden. Er machte den Sieg nachträglich zur Revanche für die Niederlage des Deutschordensheeres von 1410 gegen Polen-Litauen. Das ist absurd, denn
die Kontinuität stimmt noch nicht mal in Ansätzen. Im multiethnischen Ordensheer kämpften auch polnischsprachige Untertanen – und beim polnisch-litauischen Gegner auch deutschsprachige Söldner.
SPIEGEL: Erst als Ostpreußen 1914 umkämpft war, erfuhr es Solidarität aus dem Westen des Reiches?
KOSSERT : Ja, viele westdeutsche Großstädte hatten eine Patenstadt in Ostpreußen. Im Bürgertum weitverbreitete Romane wie die der Brüder Skowronnek mit ihren Geschichten »Sturmzeichen« oder »Das große Feuer« erzielten eine extrem hohe Auflage. Das verkaufte sich: das geschundene, umzingelte Grenzland.
SPIEGEL: Ist das die Aura Ostpreußens, die es unterscheidet vom Sudetenland oder dem – heute rumänischen – Banat?
KOSSERT: Ostpreußen war zuvor einfach eine Provinz, ein Teil Preußens, seine politische Bedeutung erhielt es erst 1914. Da wurde es zum Kampfbegriff. 1927, zu Hindenburgs 80. Geburtstag, wurde das gigantische Tannenberg-Nationaldenkmal eingeweiht. Da war es schon wie eine nationale Pilgerfahrt, nach Ostpreußen zu reisen. Dass ein national gesinnter deutscher Student ein Ostsemester in Königsberg absolvierte oder sich ein Junglehrer für ein, zwei Jahre nach Ostpreußen versetzen ließ, war eine Art Ehrenpflicht.
SPIEGEL: Wir tragen ja zwei Ostpreußenbilder in uns. Das der preußischen Tugenden, des Geistes der Toleranz, Kant und Herder, das andere ist das deutschnationale, ja chauvinistische, preußisch-militaristische.
KOSSERT : Beide gehören zur Geschichte. Gerade legen wir
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