Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch
assimilieren und sollten über ihr Leben im früheren deutschen Osten öffentlich schweigen.
Dabei war der Schock, der die Deutschen mit der Abtrennung der Ostgebiete traf, auch an der SED nicht spurlos vorübergegangen. Noch am 14. September 1946 hatte der führende SED-Politiker Max Fechner im Parteiorgan »Neues Deutschland« versprochen, dass sich die Partei »jeder Verkleinerung deutschen Gebietes entgegenstellen wird«. Die Ostgrenze sei »nur provisorisch«. Doch wenige Tage später verkündete der sowjetische Außenminister Wjatscheslaw Molotow, die Grenzziehung sei »dem Wesen der Sache nach« endgültig. Ein letzter vorsichtiger Versuch der SED-Spitze, Stalin in Sachen Ostgrenze umzustimmen, scheiterte im Januar 1947. Im November 1948 verkündete Parteichef Walter Ulbricht die bis zum Ende der SED gültige Version, Deutschland habe »die Ostgebiete verspielt«, und zwar »durch eine jahrhundertelange reaktionäre Politik«. Die Grenzanerkennung, so Ulbricht, sei »die Voraussetzung, um Entgegenkommen beim polnischen Volk zu finden, das so furchtbar gelitten hat«. Da bereitete die SED bereits die Gründung der DDR vor. Der neue Staat hatte keine andere Wahl, als die von der sowjetischen Führung durchgesetzten Grenzen zu akzeptieren. Dabei war die DDR-Losung von der »deutsch-polnischen Freundschaft« 1950 kaum mehr als Propaganda. Dennoch entwickelten DDR-Bürger und Polen über die folgenden Jahrzehnte allmählich einen gutnachbarlichen Alltag.
Die beiden ehemaligen Sozialdemokraten Grotewohl und Cyrankiewicz, der deutsche Gestapo-Häftling und der polnische
Auschwitz-Überlebende, hatten mit dem umstrittenen Grenzvertrag letztlich die Voraussetzungen geschaffen für eine Verständigung zwischen Deutschen und Polen. Zu einer solchen Politik rang sich auch die Bundesrepublik unter Kanzler Willy Brandt zwei Jahrzehnte später durch. Mit visafreiem Verkehr zwischen Polen und der DDR entstanden seit 1972 zahlreiche berufliche Kontakte als auch Freundschaften über die Grenze hinweg. Die Begegnungen waren jedoch oft eine Annäherung in Amnesie. Die deutsche Geschichte der polnischen Westgebiete sollte aus politischem Kalkül in Vergessenheit geraten.
Doch wo die Staatsführung Schweigen verordnet hatte, fanden Schriftsteller trotz Zensur Worte. Die erste DDR-Autorin, die das Thema Vertreibung zentral behandelte, war Anna Seghers. Die Dichterin, die 14 Jahre in der Emigration gelebt hatte, schrieb 1950 in Erzählungen mitfühlend über »Gerda aus Ostpreußen«, die nach der Flucht »keinen Krümel mehr« besaß, oder über den Kesselflicker Franz, der »außer dem Bein auch seine Heimat verloren« hatte. Der DDR-Lyriker Johannes Bobrowski verfasste über seine ostpreußische Heimat »schöne, von sanfter Trauer beschattete Bilder«, wie selbst die ihn bespitzelnde Staatssicherheit in einem Bericht anerkannte. Und der aus dem Riesengebirge stammende Autor Franz Fühmann schilderte 1962 in seiner Erzählung »Böhmen am Meer« das Schicksal einer heimwehkranken Sudetendeutschen, die in der DDR nicht heimisch wurde.
Lebhafte Diskussionen löste Christa Wolf 1976 mit ihrem Roman »Kindheitsmuster« aus. Die Schriftstellerin thematisiert darin ihre Kindheit und Jugend in »L., heute G.«, Landsberg an der Warthe, dem jetzigen Gorzów Wielkopolski. Sie schilderte die Schrecken der Flucht unter sowjetischen Tieffliegerangriffen und bekannte: »Man lässt den Auszug aus der Heimat nicht unbeweint.«
»Froilain, wejinense ruhich«
Auf der Rückfahrt von einem Interview in Polen besuchte die Autorin zum ersten Mal den Geburtsort ihres Vaters, das Dorf Ruś in Ostpreußen – die Geschichte einer verspäteten Heimatsuche.
Von Petra Reski
Wenn ich anrufe, ruft meine Tante immer: Sepp! Se-hepp! Komm schnell, die Pejitrra ist drran! Dann dauert es einen Moment, bis ich höre, wie ein Stuhl knarrt, und auch mein Onkel Josef in das Telefon ruft: Nu, Pejitrra, wie gejit es dir?
Sofort sehe ich sie vor mir sitzen, in diesem Flur in Polen, an dem Tisch unter den Rehgeweihen, den Gestecken aus Trockenblumen und dem unter Glas gerahmten Foto des berühmten Vetters, des Rennstallbesitzers Erich Zakowski. Ich sehe Josefs weißes Haar im Halbdunkel leuchten und Monikas Hände über die Küchenschürze streichen. An ihren Fingern klebt noch etwas Kuchenteig. Ferngespräche sind für meine polnischen Verwandten immer noch eine Kostbarkeit, deshalb nehmen sie sich dafür Zeit und sind glücklich, dass der Telefonapparat, den
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