Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch
vorwerfen, es nicht versucht zu haben. Damals lebte ich schon seit langem in Italien, und dort fand man es eigentümlich, dass ich nie das Bedürfnis verspürte hatte, das Dorf zu sehen, in dem die Familie meines Vaters viele Generationen lang gelebt hatte: Ruś, auf Deutsch Reußen, ein winziges Dorf unweit von Olsztyn, dem einstigen Allenstein und der heutigen Hauptstadt des Verwaltungsbezirks Ermland-Masuren. Wenn ich Italienern gestand, nie dort gewesen zu sein, wo ihrer Meinung nach doch meine Wurzeln zu finden seien, war das für sie so befremdlich, als hätte ich ihnen offenbart, einen nahen Verwandten in einem anonymen Grab verscharrt zu haben. La tua terra, fragten sie, deine Erde, du hast sie nie gesehen?
Bauernhof des Urgroßvaters von Petra Reski in Jomendorf bei Allenstein um 1936, vorn ihre Großmutter Anna mit Vater Heinrich an der Hand
Aber wie sollte ich den Italienern auch erklären, dass es in Deutschland so eine Sache war, mit den Wurzeln und der Erde und der Heimat. Alles Dinge, mit denen ich in meinem Leben nicht geschlagen sein wollte. Jedenfalls hatte ich mir das als Kind fest vorgenommen, als ich am Wohnzimmertisch saß und mit meinen Cousins Eierlikörflip trank, während meine ostpreußische Familie wie üblich am Ende jeder Familienfeier »Land der dunklen Wälder und kristall’nen Seen« sang. Und danach in Tränen ausbrach. Einschließlich der Angeheirateten, die Ostpreußen gar nicht kannten.
Und ich wäre wohl auch schnell weitergefahren, wenn ich an jenem Frühlingstag dort auf der staubigen Dorfstraße nicht diese alte Frau getroffen hätte, die sich noch an meine Familie erinnerte. Sie sprach den Vornamen meines Großvaters so liebevoll aus, als hätte er erst gestern das Dorf verlassen. Allo, sagte sie, nicht Aloysius. Nu, derr Allo, wie gejit es ihm? Und ich, die nichts mit diesem Dorf und dieser Erde und dieser Heimat zu tun haben wollte, stand da und fing an zu heulen. Und die alte Frau nahm meine Hand und sagte: Wejinense, Froilain, wejinense ruhich. Das war Frau Bsdurek. Sie wohnte mit ihrem Sohn Reinhard, genannt Rejini, in einem kleinen, flachgedrückten Haus neben dem einstigen »Gasthaus zur Ostpreußischen Schweiz«, an den noch eine halbzerbrochene Tafel in deutscher Sprache erinnerte. Dort lebte Frau Steppuhn mit ihrem Mann, und gegenüber, auf
der anderen Seite des Flusses, wohnte Frau Szepanski mit ihrem Mann, einem Russen, wie sie hier sagten, obwohl er Litauer war. Aber für die alten Ostpreußinnen hier war alles russisch, was östlich lag.
Ich bin als Einzige aus der Familie meines Vaters zurückgekehrt. Was vorbeji ist, ist vorbeji, pflegte meine Großmutter zu sagen. Sie wollte nie zurück, weil sie bei der Flucht ihre Eltern zurücklassen musste – die zehn Jahre nach dem Krieg starben, ohne ihre Töchter wiedergesehen zu haben. Jeden Sommer war ich hier und saß mit Frau Bsdurek und Frau Szepanski und Frau Steppuhn auf der Bank vor dem »Gasthaus zur Ostpreußischen Schweiz« und trank mit ihnen Kaffee, polnischen Kaffee, wie sie entschuldigend sagten, mit Kaffeesatz, der manchmal etwas zwischen den Zähnen knirschte. Und während ich darauf wartete, dass sich der Kaffeesatz auf dem Grund der Tasse absetzen würde, dachte ich darüber nach, wie es dazu gekommen war, dass ich nichts zu tun haben wollte mit dem, was hinter meiner Familie lag. Der Heimat meines Vaters. Und meiner Mutter – die mit ihrer Familie aus Schlesien geflüchtet ist und die Schlesien bis heute als »zu Hause« bezeichnet, obwohl sie stets behauptet: Heimat ist für mich da, wo ich bin! Womit sie zielsicher ihre Schwester Ruth gegen sich aufbringt, die zur Glaubensschule der orthodoxen Heimatverehrer gehört.
Als Willy Brandt in Warschau auf die Knie fiel, war ich zwölf Jahre alt. Den Verzicht auf die Ostgebiete empfand ich als große Erleichterung. Ich hoffte, dass endlich etwas Ordnung in das Weltgeschehen gebracht würde. Denn was war von einem Land zu halten, von dem mein Diercke-Atlas behauptete, es stehe »zur Zeit unter polnischer Verwaltung«? Als meine Tante Ruth in den siebziger Jahren zum ersten Mal wieder »nach Hause« fuhr, 17 Stunden Busfahrt vom Ruhrgebiet nach Schlesien, und schließlich mit roten
Backen von ihrem Besuch in Breslau berichtete, korrigierte ich sie kühl: Es heißt jetzt aber Wroclaw. Von wegen, immer schon deutsch. Ich war der neue Mensch. Ich stand auf der Seite der Sieger. Umso erstaunter war ich, Jahrzehnte später in Allenstein junge polnische
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