Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch
Rheinland, »den ostischen Geist hier nicht haben.« Noch 1953 hielt Adenauer »eine Art Kondominium oder eine Verwaltung der Ostgebiete durch die Vereinten Nationen« für denkbar. »Wenn Polen wieder ein freier Staat sein wird«, versprach er den Vertriebenen in den folgenden Jahren, könnten sie nach Schlesien und Pommern zurückkehren, ja sogar in das von der Sowjetunion annektierte Königsberg. Viele Vertriebene wollten Adenauers Versprechungen glauben. Sein Großvater, berichtete Günter Grass vor einigen Jahren, habe »noch jahrelang gehofft, dass er eines Tages seine Tischlerei in Danzig wieder in Gang setzen könne«: »Er saß auf den Koffern, bis er gestorben ist.«
Offiziell forderte Adenauer eine Revision der Potsdamer Beschlüsse. Bereits in seiner ersten Regierungserklärung 1949 kündigte der Kanzler eine umfassende Denkschrift an, die beweisen sollte, »dass die Austreibung der Vertriebenen in vollem Gegensatz zu den Bestimmungen des Potsdamer Abkommens vorgenommen worden« sei.
Zahlreiche renommierte Wissenschaftler unter der Leitung des früher in Königsberg, seit 1948 in Köln lehrenden Historikers Theodor Schieder erarbeiteten eine fünfbändige Dokumentation, die auf rund 5000 engbedruckten Seiten Zehntausende Berichte von Augen- und Zeitzeugen sowie amtliche Dokumente bietet. Schieder war freilich dem NS-Regime eng verbunden gewesen und hatte Vertreibungen wenige Jahre zuvor noch gefordert – allerdings Zwangsmigrationen von Polen aus den 1939 durch Deutschland annektierten Gebieten im heutigen Nordwesten Polens: »Die Herstellung eines geschlossenen deutschen Volksbodens«, hatte Schieder damals in einer Denkschrift formuliert, mache »Bevölkerungsverschiebungen allergrößten Ausmaßes notwendig«.
Zudem verfolgte das Vertriebenenministerium als Auftraggeber der Dokumentation eine eindeutig politische Absicht: Man wollte, wie der erste Vertriebenenminister Hans Lukaschek (CDU) freimütig sagte, damit das Potsdamer Abkommen, mit dem 1945 die Oder-Neiße-Grenze festgelegt worden war, anfechten, falls es zu Friedensverhandlungen käme.
Der breiten Öffentlichkeit blieben die Opferberichte vorenthalten. Die 1960 abgeschlossene Dokumentation ging damals nicht in den Buchhandel, sondern verschwand als Ministeriumsdruck in einigen wenigen Regalen. Der Ergebnisband erschien überhaupt nicht, weil er den Politikern nicht genehm war. Denn darin wurde auch ausgeführt, dass
es ohne das brutale Vorgehen der Deutschen nicht die grausamen Auswüchse auf der anderen Seite gegeben hätte.
Adenauer vertrat den »Rechtsstandpunkt«, dass die Frage der Ostgebiete offen sei, solange es keinen Friedensvertrag gebe; völkerrechtlich bestehe Deutschland in den Grenzen von 1937 fort. Der erste BHE-Chef Waldemar Kraft wandte sich allerdings gegen »jede Nennung einer Jahreszahl«, weil man sonst den Anspruch auf die schon nach dem Ersten Weltkrieg an Polen abgetretenen Gebiete Westpreußen, Posen und Ostoberschlesien, die ehemals Freie Stadt Danzig und das nunmehr litauische Memelgebiet sowie das Sudetenland preisgeben würde.
Je schriller die Vertriebenenfunktionäre ihre territorialen Ansprüche stellten und ihr Rückkehrrecht reklamierten, desto mehr manövrierten sie ihre Verbände ins gesellschaftliche Abseits. In der öffentlichen Wahrnehmung wurden sie ab Mitte der sechziger Jahre zu ewiggestrigen Störenfrieden, die den Anliegen der Vertriebenen mehr schadeten als nützten.
Als Sonntagsredner berüchtigt war Hans-Christoph Seebohm (CDU), der am längsten ununterbrochen amtierende Bundesminister (Verkehrsminister von 1949 bis 1966). Als Sprecher der Sudetendeutschen Landsmannschaft forderte er 1964 ausgerechnet auf dem ehemaligen NS-Reichsparteitagsgelände in Nürnberg die »Rückgabe der geraubten sudetendeutschen Heimatgebiete«.
Der BdV samt den ihm angeschlossenen Landsmannschaften repräsentiert heute allerdings nur eine verschwindend kleine Minderheit der Vertriebenen. Offiziell wird die Mitgliederzahl mit zwei Millionen angegeben, der Historiker Später schätzt die Anzahl aktiver Mitglieder jedoch auf »höchstens noch 25 000« – von rund 15 Millionen Deutschen, unter denen nach BdV-Definition die Nachkommen
ebenfalls Vertriebenenstatus haben. Trotzdem erhebt der BdV einen Alleinvertretungsanspruch, der abweichende Meinungen auch von Schicksalsgenossen nicht gelten lässt.
Als der Frankfurter Zoodirektor und Tierfilmer Bernhard Grzimek, geboren in der schlesischen Stadt Neisse, 1960 in
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