Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch
Historiker zu treffen, die sagten: Von wegen, immer schon polnisch! Und die 1990 die Kulturgemeinschaft Borussia gegründet hatten – um ihre Geschichte von dem Gestrüpp der kommunistischen Geschichtsschreibung zu befreien und endlich auch über die Vertreibung der Ukrainer nach Ostpreußen sprechen zu können, über die Deportation der Litauer, über die Vertreibung der Deutschen und über die Vernichtung der Juden, deren Friedhof und Leichenhalle sie in Allenstein vor dem Vergessen bewahrten – genau wie die alten ostpreußischen Schlösser und die Kriegsgräber der Soldaten aus den beiden Weltkriegen.
Aber schon während jener Sommer, als ich neben Frau Bsdurek, Frau Steppuhn und Frau Szepanski auf der Bank saß, bemerkte ich, dass die Geschichte nicht nur voran-, sondern auch zurückschreiten kann. Das war zu jener Zeit, als man in Deutschland beschloss, ein Zentrum gegen Vertreibungen aufzubauen. Von diesem Moment an waren die Vertriebenen wieder jener Spielball in der ideologischen Schlacht, der sie über Jahrzehnte gewesen waren, vereinnahmt von den Rechten, verteufelt von den Linken. In einer Schlacht, in der jedes Bekenntnis eines Politikers wie ein Sieg gefeiert wurde: »Rau gegen deutsches Vertriebenen-Zentrum«, »Schröder gegen Vertreibungs-Zentrum«. Politiker, die alle nicht merkten, dass ihr Feind schon lange auf Krücken geht. Dass der Feind Männer mit milchigblauen Augen und Gehwagen waren und zitternde alte Damen in weißen Spitzenblusen. Verwundert bemerkte ich, wie sich eine kuriose Allianz aus deutschen Linken und polnischen
Nationalisten ergeben hatte – in einer Zeit, in der die Kaczyński-Brüder Polen zurückdrängen wollten in eine Welt, in der man Homosexuelle unterdrücken, die Todesstrafe fordern, Abtreibung verbieten und die Deutschen unter allgemeinen Revisionismusverdacht stellen kann. Zur gleichen Zeit fuhr ich nach Breslau, um über ein deutsch-polnisches Theaterstück zu berichten, das von dem jungen polnischen Regisseur Jan Klata inszeniert wurde. Er sah aus wie ein Kreuzberger Punk, dem man zugetraut hätte, mit einer Bierflasche und einem alten Schäferhund durchs Leben zu ziehen – nicht aber, sich mit großer Menschlichkeit dem Thema Flucht und Vertreibung zu widmen. Nationalistische Klischees belächelte er. Besonders in Breslau entbehre die Idee von der genannten Zurückeroberung der polnischen Muttererde nicht einer gewissen Komik, sagte er: Was heißt hier »wieder polonisiert«? Nach 700 Jahren? Jede Geschichte von Flucht und Vertreibung sei es wert, gehört zu werden, sagte er, eine Geschichte von einem Menschheitstrauma, das sich täglich wiederholt, in Darfur, im Kosovo, in Bosnien.
Heute kann ich in dem ostpreußischen Heimatdorf meines Vaters nur noch die Gräber von Frau Bsdurek und Frau Szepanski besuchen. Ein Herz aus schwarzem Marmor schmückt Frau Bsdureks Grab, Jadwiga steht darauf, obwohl sie sich immer nur Hedwig nannte. Ihre Nachbarin, Frau Szepanski, lebte noch bis vor zwei Sommern. Da zeigte sie mir die Fotos von ihrem toten Ehemann, dem falschen Russen, der zu Hause aufgebahrt worden war, in seinen Nasenlöchern steckten zusammengerollte Tempotaschentücher.
Nach und nach sterben die alten Ostpreußen aus. Reußen hat sich aus einem armen Waldarbeiterdorf in einen idyllischen Vorort von Allenstein verwandelt, wo sich Zahnärzte schöne Flussgrundstücke kaufen und Häuser mit riesigen
Terrassen bauen. Manchmal fahre ich mit meinem Onkel Josef hier vorbei, meinem wiedergefundenen Onkel. Wenn wir an dem Bauernhof meines Urgroßvaters Anton Reski vorbeikommen, denken wir daran, dass wir vor ein paar Jahren noch mit Wazek, einem aus Litauen vertriebenen Polen und heutigen Besitzer, im Garten saßen, Erdbeeren aßen und Wodka tranken. Seitdem Wazek seiner Tochter den Hof überschrieben hat, dürfen wir nicht mehr kommen. Die glaubt, wir wollen den Hof wiederhaben, sagt Josef und schüttelt den Kopf.
Und wo wir schon beim Thema Gräber wären: Das Grab des deutschen Soldaten, das sich seit Kriegsende in Josefs Garten befunden hat, sei jetzt auch beseitigt worden, ruft Josef in das Telefon. Warren ja bloß noch die Knochens, sagt er, die haben das ja ganz schön zusammengestellt, die Knochens und den Schädel extra, denn der warr ja enthauptet worrden.
Und dann habe man ihn in Nikolaiken (Mikolajki) auf dem Soldatenfriedhof beigesetzt. Josef war bei der Beisetzung dabei, wie auch die Tante des Soldaten, die aus Deutschland angereist war und sich bei
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