Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch
ihre Kinder aus Deutschland geschickt haben, einen Lautsprecher hat. Der ihnen erlaubt, sich während des Telefonats gegenseitig ins Wort zu fallen. Meine Tante berichtet, dass sie seit kurzem Rheuma in den Händen hat, mein Onkel hat einen Herzschrittmacher gekriegt, und ihr Nachbar, der Bauer Jurawski, ist gestorben, derr mit den Pferrden, wejist, Pejitrra. Sie müssen nur meinen Vornamen aussprechen, und ich fühle mich wieder in meine Kindheit versetzt. Wo man das R rollte, nicht
über, sondern ieber sagte, nicht weißt du, sondern wejist, wo man Ostpreußisch sprach, jene zärtliche und ruppige Sprache, die ich auf dem Grund meines Herzens vergraben hatte, bis ich sie hier wiederfand, in jenen Dörfern unweit von Olsztyn, einst Allenstein, wo mein Onkel Josef bis heute lebt und wo mein Vater aufgewachsen ist.
Bis vor ein paar Jahren wussten Josef Reski und ich nicht, dass wir miteinander verwandt sind. Als ich mich auf die Suche nach dem machte, was meine Familie Hejimat nannte, waren schon alle tot, die mir hätten Auskunft geben können. Niemand wusste, dass im fernen Ostpreußen noch ein Reski lebte, ein Vetter meines Vaters, der nicht wie meine Familie 1945 geflohen war. Zusammengeführt hat uns ein Leser meines Buches. Er verbringt seit Jahren seine Ferien bei Josef Reski und hatte ihm meine ostpreußische Familiengeschichte zum Geschenk gemacht: »Ein Land so weit«. Noch heute kann Josef nicht fassen, dass er darin seinen Vater fand: Und ich guck hierr so in das Buch, und dann sag ich: Mensch! Da ist doch mejin Vatterr drrauf! Ich hol mal das Verrgreeßerungsglas! Er zeigte auf einen Mann mit Hitler-Bärtchen. Josef Reski senior verschwand im Volkssturm, seine Leiche wurde nie gefunden.
Petra Reski
Die Journalistin und Schriftstellerin ist die Tochter eines Ostpreußen und einer Schlesierin und wuchs im Ruhrgebiet auf. 2000 erschien ihr Buch »Ein Land so weit«, eine Familiengeschichte, in der sie Ostpreußen schließlich auch für sich als Heimat entdeckt. Seit 1991 lebt Reski, Jahrgang 1958, in Venedig, wo sie sich mit mehreren Büchern als kritische Kennerin der Mafia profiliert hat.
In diesem Sommer war ich zum ersten Mal nicht bei ihnen zu Besuch. Habe nicht mit Monika und Josef in ihrem Garten unter den Apfelbäumen gesessen – neben dem Gemüsegarten, in dem ein deutscher Soldat begraben war. Ich habe keine Buttercremetorte mit ihnen gegessen, habe Jurawskis Pferde nicht gefüttert und bin nicht auf den Friedhof nach Groß Bertung (Bartąg) gefahren, zum Grab meines Urgroßvaters Anton Reski, das meine Tante Monika in ihrer üblichen tatkräftigen Art von hüfthohen Brennnesselbüschen, Vogelmiere und Schlingpflanzen befreit und mit Immergrün und Tagetes bepflanzt hat. An Allerheiligen hat sie ihren Sohn Andreas zum Friedhof geschickt, wo er das Grab mit Tannenzweigen bedecken und einen Blumentopf hinstellen sollte. Und nach ejiner Stunde kommt der Andrres zurrick und sagt, das Grrabb ist nicht mehrr da! Hat er nichts mehrr finden kennen, kejin Grrabb, kejine Tafel, nichts! Die haben das alles liquidierrt, die Grräberrs und die Tafeln, alles!, ruft mein Onkel ins Telefon, noch ganz außer sich. Als Andreas den Pfarrer darauf aufmerksam gemacht habe, dass dieses Grab doch gepflegt gewesen sei, anders als die anderen deutschen Gräber, um die sich schon lange niemand mehr gekümmert habe, sei der Pfarrer ganz betreten gewesen und habe Andreas gebeten, seiner Mutter bloß nichts davon zu erzählen. Die machen das jetzt ieberrall, ruft Josef. Die machen die alten Grräberrs weg, die dejitschen! Ist zu viel Zejit vergangen!
In Deutschland wird ein Grab manchmal schon nach 20 Jahren beseitigt, stelle ich fest. Mein Urgroßvater starb im Jahr 1928, nach 82 Jahren kann man den Polen nicht verdenken, dass sie Platz für neue Gräber schaffen. Eigentlich. Und dennoch finde auch ich es schade. Kein »Hier ruht in Gott mein lieber Mann, unser guter Vater, Schwieger- u. Großvater Anton Reski« mehr. Der letzte Reski, der noch
in Ostpreußen begraben wurde. Es war dieser in der Mitte durchgebrochene Grabstein, der mir bedeutete: Ich bin mit Polen verwandt.
Anfang der neunziger Jahre, auf der Rückfahrt nach einem Interview mit Lech Walesa, beschloss ich, in das Dorf zu fahren, in dem mein Vater aufgewachsen ist. Und aus dem meine Familie 1945 geflüchtet ist. Ich versprach mir nicht viel von dem Besuch. Ein paar heruntergekommene Häuser und kläffende Hunde vielleicht. Aber ich wollte mir nicht
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