Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch
Möglichst schnell sollten die angesehensten Völkerrechtler der Welt die Prinzipien des Nürnberger Tribunals, solange sie noch heiß waren, zu einem Weltstrafrecht gegen Menschlichkeitsverbrechen weiterentwickeln – und etwas später ein ständiges internationales Strafgericht dazu. Dort, das war eigentlich keine Frage, wären all jene Staatsmänner und ihre Schergen anzuklagen gewesen, die das Verbrechen der Vertreibung nach dem Krieg verantwortet haben, vielleicht sogar Amerikaner. Hatte nicht Jackson selbst versprochen: Die Maßstäbe der
Anklagen von Nürnberg müssten die Ankläger dereinst auch gegen sich gelten lassen?
Was Wunder, dass der 1950 von der Völkerrechtskommission vorgelegte Entwurf bei den Großmächten auf Unwillen stieß. Damals wurde das Argument erfunden, das 40 Jahre lang zum Refrain aller Debatten des Kalten Krieges werden sollte: Die Verfolgung des Unrechts anderer Staaten, so die Vertreter des Ostblocks, sei eine »Einmischung in innere Angelegenheiten«. Der Kalte Krieg war die Eiszeit der Völkergerechtigkeit – doch an seinem Ende waren Jacksons Ideen noch immer frisch. 1993 gab die Uno den Auftrag, nach dem Modell Nürnberg in Den Haag das Jugoslawien-Tribunal zu errichten. Es war ein Gericht gegen Menschlichkeitsverbrechen im Balkan-Krieg – und sein erster großer Fall beschäftigte sich mit einer Tat, die gar nicht so verschieden war von den furchtbaren Ereignissen in jener schwarzen Mai-Nacht von Dobronín.
Der Kaffeehausbesitzer Dusco Tadić aus Kozarac in Bosnien-Herzegowina hatte dem bosnischen Serbenführer Radovan Karadžić in besonders gemeiner Weise bei den »ethnischen Säuberungen« geholfen, wie die Vertreibung der muslimischen Bosnier damals genannt wurde. Nach Kneipenschluss war Tadić oft ein paar Straßen weiter ins Internierungslager gegangen. Dort quälte der Feierabend-Sadist die Insassen zu Tode. Tadić wurde 1994 in München verhaftet und – lange vor seinem Auftraggeber Karadžić – nach Den Haag gebracht. Die Richter des Jugoslawien-Tribunals verurteilten ihn 1997 zu 20 Jahren Haft wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. In einem wichtigen Punkt unterschied sich das Urteil von den Nürnberger Grundsätzen: Quälereien und Vertreibung erklärten die Richter auch dann zum Völkerrechtsverbrechen, wenn sie – wie auf dem Balkan – außerhalb eines zwischenstaatlichen Krieges begangen
wurden. Krieg oder nicht, das ist egal, befand der erste Gerichtspräsident Antonio Cassese: »Das Völkerrecht muss den Schutz der Menschenrechte übernehmen.«
Jacksons Maximen beherrschen heute die zivilisierte Welt. Der Internationale Strafgerichtshof, ebenfalls in Den Haag, ist eine ständige Einrichtung, wie ihn einst die Völkerrechtskommission geplant hatte. Er urteilt aufgrund des Statuts von Rom, ratifiziert von derzeit 114 Staaten, darunter auch Tschechien und Polen, aber nicht von den USA. Jede Art von Vertreibung, egal von wem und gegen wen, im Frieden wie im Krieg, ist danach als Völkerrechtsverbrechen zu verfolgen.
Alles ist da: das Recht, die Richter, Angeklagte würden sich noch genügend finden. Warum, zum Teufel, klagt noch immer niemand die Verantwortlichen für das Unrecht der Vertreibung an? Es fällt schwer zu bestreiten, dass die Vertreibung der Deutschen aus dem heutigen Polen, die Aussiedlung der Deutschen und Deutschstämmigen aus dem Baltikum und die erzwungene Umsiedlung innerhalb der damaligen Sowjetunion, die Vertreibung aus der damaligen Tschechoslowakei, die Massaker an Deutschen in Ungarn und dem damaligen Jugoslawien nach heutigem Völkerstrafrecht Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind. Besonders scharfe Juristen vertreten sogar die Ansicht, einzelne Vertreibungsaktionen seien als Völkermord zu bezeichnen. Doch viele Völkerrechtler sehen ein Problem: Soll das Recht von heute auch für die Untaten von damals gelten?
Damals, zur Tatzeit des historischen Verbrechens, galt etwa die Völkermordkonvention noch nicht. Sie wurde im Dezember 1948 geschlossen, um die Rechtslücke zu füllen, die Nürnberg gelassen hatte. Den Straftatbestand der »Verbrechen gegen die Menschlichkeit«, den gab es zwar schon in Jacksons Charta von 1945. Aber danach durften – anders
als heute in Den Haag – nur Menschlichkeitsverbrechen in Zusammenhang mit Kriegsverbrechen angeklagt werden. Für Vertreibungen nach dem Krieg schienen die gegen Nazis gerichteten Nürnberger Instrumente stumpf. Der Kölner Völkerstrafrechtler Claus Kreß, einer der
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