Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch
Konstrukteure des Haager ständigen Internationalen Strafgerichtshofs, ist deshalb der Meinung, dass es außerhalb des Nürnberger Gerichtssaals zur Zeit der Vertreibungen »keinesfalls ein gesichertes Recht der Menschlichkeitsverbrechen« gab. Vielmehr sei zu Jacksons Zeiten »alles völlig umstritten« gewesen. Um Gerechtigkeit hat sich das Völkerrecht vor Jackson ohnehin wenig geschert. Für die nachträgliche Ahndung von Vertreibungen würde dies eine Sperre bedeuten. Dass keine Tat bestraft werden darf, die zur Tatzeit keine Straftat war – dies Rückwirkungsverbot ist ein Menschenrecht.
Doch der Geist von Nürnberg ist auch nach 65 Jahren nicht in der Flasche zu halten, in die ihn einst die Alliierten stopften. Im baltischen Estland haben sie ihn bereits herausgelassen. Ins estnische Strafgesetzbuch wurde schon 1994 ein »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« hineingeschrieben und danach zwei Männer verurteilt, die 1949 an der Deportation von Zivilisten in sowjetische Arbeitslager beteiligt waren. Rückwirkung! Menschenrechtsverletzung! Damit beschwerten sich die verurteilten Esten prompt beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Die Straßburger Richter trafen eine überraschende Entscheidung: Sie wiesen die Klage ab. Verbrechen gegen die Menschlichkeit, ob im Krieg oder nicht, seien schon sehr lange strafbar, spätestens seit Robert H. Jackson in Nürnberg seine berühmte Rede hielt. Die Beschränkung des Tribunals auf Menschlichkeitsverbrechen im Krieg sei nur eine Zuständigkeitsfrage gewesen – keine Grenze für Gerechtigkeit und Strafe. Weil Vertreibung so gesehen schon damals strafbar war, greife
das Rückwirkungsverbot nicht. Mehrfach, kaum bemerkt von der aufgebrachten Diskussion um Frieden mit den Vertriebenen und ihren Vertreibern, zuletzt im Jahr 2010, hat das höchste europäische Menschenrechtsgericht diese Geschichtsbetrachtung wiederholt.
Was Estland kann, können die anderen auch. Ein Vertreibungstribunal? Nürnberg II für späte Gerechtigkeit, errichtet 2011 aufgrund eines völkerrechtlichen Vertrags der Vertreiberstaaten von damals? An den Straßburger Menschenrechte-Wächtern würde es jedenfalls nicht scheitern. Frieden durch Recht – vielleicht ist es ja doch möglich. In Dobronín gibt es sogar schon ein Aktenzeichen.
Ein Loch in der Geschichte
Im Oppelner Land lebt die größte deutsche Minderheit Ostmitteleuropas. Unter den Kommunisten in Polen musste sie ihre Herkunft verleugnen. Heute pflegt sie wieder altes schlesisches Brauchtum.
Von Jan Puhl
Norbert Rasch war noch ein Kind, als er merkte: Irgendwas ist anders an mir. Er bekam Geschenke zum Geburtstag, seine polnischen Mitschüler zum Namenstag. Heiligabend gab es bei Raschs Gans, bei den Polen zwölf fleischlose Gerichte, darunter Karpfen in Gelee und Mohngebäck. Die Oma sang ihm deutsche Lieder vor, die Norbert nicht verstand, denn zu Hause wurde »Wasserpolnisch« gesprochen, eine schlesische Variante des Polnischen.
Wenn seine Eltern etwas besprachen, das die vier Kinder nicht hören sollten, wichen sie in die Sprache mit den vielen harten Konsonanten und dem kehligen »R« aus. Sie sprachen leise, denn offiziell gab es sie gar nicht, die deutsche Minderheit in Polen.
Die kommunistische Regierung in Warschau hatte alles getan, um die wenigen Deutschen, die nach den Vertreibungen 1945 geblieben waren, zu polonisieren. Doch gelungen ist es ihr nicht. Dafür steht Norbert Rasch, der 39 Jahre alt ist und heute die »Sozial-Kulturelle Gesellschaft der Deutschen im Oppelner Schlesien« leitet. »Meiner Schwester wurde noch gesagt: ›Du darfst nicht studieren, weil du Deutsche bist‹«, sagt er. »Ich habe so etwas nicht mehr erlebt. Diskriminierung ist Geschichte.«
Laut Volkszählung aus dem Jahr 2002 rechnen sich 152 897 Polen zur deutschen Minderheit. In der Woiwodschaft Opole stellen sie fast zehn Prozent der Bevölkerung, in allen anderen Verwaltungsbezirken liegt die Quote im Promillebereich. Polens Deutsche sind beliebt bei der Mehrheitsbevölkerung. Sie schicken Abgeordnete in den Sejm, das zentrale Parlament, sie lassen sich in Landtage wählen und stellen in etlichen Gemeinden den Bürgermeister. Es gibt eine deutschsprachige Wochenzeitung sowie deutsche Sendungen in Radio und Fernsehen.
Die Deutschen in Polen wollen nicht »heim ins Reich«, sondern eine »Brücke zwischen Deutschen und Polen« bauen, sagt der Vorsitzende des Dachverbands der deutschen Minderheit, Bernard Gaida. Aber das wird
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