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Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch

Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch

Titel: Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Großbongardt
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Klassenräumen hingen Landkarten, die das Deutsche Reich in den Grenzen von 1937 zeigten und Polens Westgebiete als »zur Zeit unter polnischer Verwaltung«. Erst 1973, auf dem Höhepunkt der neuen Ostpolitik des damaligen Bundeskanzlers Willy Brandt und seiner sozialliberalen Regierung, wurden die Empfehlungen modifiziert, nicht zuletzt auf Anregung der 1972 gegründeten deutsch-polnischen Schulbuchkommission.

    Die Frage der deutschen Einheit sollte seit den siebziger Jahren nur noch die Bundesrepublik und die DDR betreffen. Fortan standen strukturelle Fragen und allgemeine Analysen gegenüber dem individuellen Leid im Vordergrund. Allenfalls tauchte es auf, wenn auch die Ursachen für die Massenvertreibungen erwähnt wurden, wie etwa in einem Schulbuch von 1995: »Was Deutsche unter nationalsozialistischer Führung anderen Völkern zugefügt hatten, erlitten bei Kriegsende und nach der Kapitulation viele Deutsche, die im Machtbereich der vorher unterdrückten Völker lebten.«
    Kurz nach der deutschen Wiedervereinigung hoben die Kultusminister alle Empfehlungen zur Ostkunde auf. Sie überließen es den jeweiligen Bundesländern, ob sie dazu inhaltliche Vorgaben formulieren wollten. Seither bestimmt auch die politische Couleur der jeweiligen Landesregierung, wie gründlich etwa Flucht und Vertreibung im Unterricht erörtert werden.
    So findet sich seit 2008 im Kerncurriculum für das Gymnasium von Niedersachsen neben »Zwangsarbeit« und »totaler Krieg« auch der Punkt »Flucht und Vertreibung«. In Nordrhein-Westfalen nahm die damalige schwarz-gelbe Landesregierung im Jahr 2007 Flucht und Vertreibung in den Lehrplan für die Gymnasien auf. »Jeder Vierte in unserem Bundesland hat familiäre Wurzeln in der alten Heimat der Vertriebenen«, erklärte die seinerzeitige Bildungsministerin Barbara Sommer (CDU), ihre Parteifreundin, die Vertriebenenpräsidentin Erika Steinbach, begrüßte die Maßnahme als »wunderbar«. In anderen unionsregierten Bundesländern wie Bayern, Baden-Württemberg, Hessen und Thüringen wird das Thema ebenfalls verstärkt gepflegt. In den aktuellen Lehrplänen von Brandenburg, Bremen, Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen und dem Saarland sind ostkundliche Themen laut Historiker Gauger hingegen Mangelware.

    Aber Verdrängung? »Es ist eine absolute Legende von Erika Steinbach, dass das Thema Vertreibung im Geschichtsunterricht zu kurz kommt«, sagt etwa Wolfgang Benz, Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin. Thomas Strobel, der Organisator des aktuellen deutsch-polnischen Schulbuchprojekts am Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung in Braunschweig, hält die Geschichtsdarstellungen mittlerweile für angemessen und hebt hervor, wie weit deutsche und polnische Schulbuchexperten in kurzer Zeit schon gekommen seien.
    Über 50 Jahre Aussöhnung benötigte das Vorbildprojekt, bis es umgesetzt wurde: Seit 2006 ist ein gemeinsames deutsch-französisches Schulbuch auf dem Markt. Mit Polen, dem größten Nachbarn im Osten, soll es viel schneller gehen: Derzeit dürfen sich noch Verlage aus beiden Ländern darum bewerben, das Konzept umzusetzen und das Buch aufzulegen. Schon zum Schuljahr 2013/14 sollen die ersten Exemplare in die Klassenzimmer kommen.

Aktenzeichen ungelöst
    Wer sühnt historisches Unrecht? Warum gab es nie ein Tribunal für die Verbrechen der Vertreibung?

    Von Thomas Darnstädt

    Im tschechischen Städtchen Dobronín in Südmähren ist Geschichte ein Fall für die Polizei. Auf der »Budinka-Wiese« hinter dem Bahndamm, 500 Meter vom Ortsrand entfernt, sind Teile menschlicher Skelette gefunden worden, knapp von Erde bedeckt, unter Brennnesseln, die hier seit 65 Jahren ungestört wuchern. Die Staatsanwaltschaft hat ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Doch sie trifft im Städtchen auf vielsagendes Schweigen. Niemand kann sich genau erinnern. Dabei kennt hier jeder die Geschichte von jener Samstagnacht im Mai 1945, als im Gasthaus Polzer Tanz war und einige aus Dobronín, damals Dobrenz, schwer betrunken angeblich beschlossen, die Deutschen auf eigene Faust auszutreiben. Unter dem Kommando des Glasschleifers Robert Kautzinger soll die mit Knüppeln und Spaten bewaffnete Feiergesellschaft zum Gerätehaus der Feuerwehr gezogen sein, wo 15 deutsche Mitbürger eingesperrt auf ihre Abschiebung warteten. Sie brachten sie über den Bahndamm in die Wiesenmulde oberhalb des Waldrandes, unmittelbar am Feldweg nach Nové Dvory, dort mussten,

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