Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch
motivierte Gewalt geworden.
Doch was schert sich die Geschichte um das Recht. Der 20. November 1945, der Tag, der Rechtsgeschichte schrieb, war ein Tag zum Sterben, so wie die Tage und Wochen zuvor und danach. In Güterzügen mit Viehwagen werden die Deutschen zu Hunderttausenden aus den Sudeten, aus Polen und anderen Ländern des Ostens nach Westen verschubt. Robert Murphy, der politische Berater der US-Militärregierung, kabelt einen Horrorbericht aus Berlin nach Washington: »Allein auf dem Lehrter Bahnhof haben unsere Sanitätsdienststellen täglich im Durchschnitt zehn Menschen gezählt, die an Erschöpfung, Unterernährung und Krankheit gestorben sind« – »Elend und Verzweiflung« herrsche unter den Unglücklichen, »Gestank und Schmutz«.
Während Jacksons Leute in Nürnberg an der neuen Weltgerechtigkeit arbeiten, rollt aus dem tschechischen Troppau, heute Opava, ein Zug mit 2400 Menschen nach Westen. Der Zug kommt 18 Tage später in Berlin an. Da leben in den Güterwagen noch 1350. Kinder, die unterwegs starben, so berichtete der Philosoph Bertrand Russel über einen ähnlichen Fall in Polen, wurden aus dem Fenster geworfen. »Nichts Vergleichbares«, resümierte im Oktober 1946 der Korrespondent der »New York Times« für seine Leser
im siegreichen Amerika, habe es jemals in der Geschichte gegeben: »Niemand, der diese Gräuel miterlebt hat, kann daran zweifeln, dass es sich um ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit handelt, für das die Geschichte eine furchtbare Vergeltung üben wird.«
Verbrechen gegen die Menschlichkeit: Dies war das Stichwort, das drüben in Nürnberg im Mittelpunkt der Verhandlungen gegen Hermann Göring und seine Mitangeklagten stand. Ein Verbrechen, das die Menschheit vorher nicht beschäftigt hatte. Jackson hatte die Strafvorschrift bei zähen Verhandlungen in London in die Charta des Vier-Mächte-Tribunals hineingeboxt. Eine Premiere fürs Völkerstrafrecht.
Auch Vertreibung, so sah es die Charta von London vor, war ein Menschlichkeitsverbrechen. Das Verbrechen der Vertreibung warfen die Nürnberger Ankläger etwa dem NS-Außenminister Joachim von Ribbentrop vor. Er wurde unter anderem verurteilt, weil er Juden in den Osten hatte deportieren lassen. Vergebens wies ein Verteidiger darauf hin, dass während des Prozesses viele Millionen Menschen hilflose Objekte von Deportation und Vertreibung seien. Das, so wich das Gericht aus, tue nichts zur Sache.
Wie konnte Jacksons Jahrhundert-Gericht vor historischen Verbrechen, die zu bestrafen es gerade angetreten war, die Augen verschließen? Die Antwort, typisch juristisch: Die Richter waren nicht zuständig. In der Londoner Charta hatten die vier Siegermächte die Aufgabe des Nürnberger Tribunals auf die Verfolgung von Schandtaten des NS-Staates und dessen europäischen Verbündeten beschränkt. Weiteres Unrecht zu ahnden, hätten die Alliierten niemals akzeptiert – schon gar nicht die Bestrafung der Vertreibung. Hatten sie selbst doch bereits in Jalta die Abschiebung der Deutschen aus dem Osten, sogar ihre Deportation in Stalins Arbeitslager, vereinbart.
Als Menschlichkeitsverbrechen war nach der Charta zudem nur jenes Unrecht zu verfolgen, das im Zusammenhang mit Hitlers Krieg begangen worden war – eine dramatische Lücke: Der Holocaust, soweit er nicht Teil des Krieges war, wurde in Nürnberg nicht verhandelt, und Vertreibungen nach der Kapitulation der Deutschen erst recht nicht. Es ist verständlich, dass viele Nachkriegsdeutsche, besonders die Opfer der mörderischen Menschenschieberei, Jacksons Tribunal als »Siegerjustiz« bezeichneten, die historisches Unrecht nicht etwa beseitigt, sondern sogar noch vergrößert hat. Aber das stimmt nicht. Denn Jacksons Ideen haben sich, kaum hatte das Tribunal seine Arbeit getan, schnell verselbständigt. Dass Staatsmänner und Militärs, die Befehlsgeber historischen Unrechts, ebenso wie kleine Menschenquäler ganz persönlich für die Menschlichkeitsverbrechen, die sie zu verantworten haben, bestraft werden können – dies Prinzip von Nürnberg war nicht mehr aufzuhalten. Es ist das Prinzip der Weltgerechtigkeit, die unabhängig davon Gültigkeit beansprucht, welchem staatlichen Recht oder Unrecht Mehrheiten oder Minderheiten in einem Staat unterworfen sind.
Ein Nürnberg für die ganze Welt: Dies war der Auftrag, den im Angesicht der Menschlichkeitsverbrechen auf dem europäischen Kontinent die frisch gegründete Uno einer Völkerrechtskommission schon 1947 erteilte.
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