Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch
so erzählt man sich, die Opfer ihr Grab selbst ausheben. Bauern, die am Sonntag früh in der Umgebung der Wiese zerschlagene Leichenteile fanden, verscharrten sie eilig.
Wiesen haben auf dem Land so ihre Namen, wie alte Eichen. Warum die Budinka-Wiese so heißt, wer hat sich
darüber schon Gedanken gemacht? Doch nun kam die Polizei, jetzt ist es amtlich: Budin war der Kerl, der sich damals mit dem Spaten besonders hervorgetan haben soll.
Ein Aktenzeichen gibt es jetzt. Wird es nun auch Gerechtigkeit geben? Genugtuung für die Angehörigen jener 15 Männer, die seit der Mai-Nacht 1945 verschwunden sind? Eine Strafe für jene jungen Leute, die damals dabei waren – und sich heute wohl in irgendeinem Altersheim verstecken? Was damals geschah, war nach dem Recht der rachedurstigen Tschechen kein Verbrechen, es war von der Obrigkeit zumindest toleriert. Die berüchtigten Vertreibungsdekrete des Präsidenten Edvard Beneš wurden seinerzeit durch ein Gesetz ergänzt, das vor dem 28. Oktober 1945 begangene Übergriffe gegen Sudetendeutsche straffrei stellte. Beides ist bis heute geltendes Recht.
Selbst wenn man das Massaker auf der Budinka-Wiese als Mord bezeichnen könnte – nach tschechischem Recht bliebe es unbestraft. Brennnesseln drüber. Wer will das Gestrüpp von Unrecht und Vergeltung, von Hass und Rache noch durchdringen. Allein die Vertreibung von 2,9 Millionen Deutschen aus der damaligen Tschechoslowakei kostete wohl 30 000 von ihnen das Leben – erfroren, verhungert, zu Tode gefoltert. Über Schuld und Verantwortung für die gigantische humanitäre Katastrophe nach dem Krieg streiten bis heute Staatsmänner, Vertriebenenverbände, Hinterbliebene, ihre Kinder und Enkel. Das Unrecht der Vertreibung ist Thema von Büchern und Denkmälern, Gedenkstätten, Stiftungen, Kongressen.
Doch was heißt das: Es war Unrecht? Was folgt daraus – und nach welchem Gesetz? Gibt es Gerechtigkeit?
Die Juristen haben es in 65 Jahren nicht geschafft, Klarheit ins Gestrüpp zu bringen. Völkerrechtler überbieten sich in der fachkundigen Bezeichnung der Katastrophe von
damals als Massenmord, Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Doch einig sind sie sich nicht. Und es gab nie einen Richter, der jemals ein klärendes Urteil über die Vertreibung gesprochen hat. Gibt es Unrecht, das zu groß ist, als dass es mit der Elle des Rechts gemessen werden kann? Muss Gerechtigkeit vor den größten Verbrechen kapitulieren? Am Dienstag nach der Bluttat von Dobronín landete aus den Vereinigten Staaten auf dem Flughafen von Paris, mitten in den noch rauchenden Trümmern Europas, ein Mann, der das nicht glauben wollte. Der ehrgeizige US-Bundesrichter Robert H. Jackson hatte sich von seinem Präsidenten Harry Truman den Auftrag besorgt, »Grausamkeiten und Kriegsverbrechen« in Europa zu ermitteln und anzuklagen.
Männer machen nicht Geschichte, aber Rechtsgeschichte schon: In wenigen Monaten schaffte es der US-Jurist Jackson, zusammen mit Engländern, Franzosen und sogar den Russen ein Alliiertes Strafgericht in Nürnberg auf die Beine zu stellen, das über das größte Verbrechen der Neuzeit, die Nazi-Barbarei, zu urteilen hatte. Und bei der Eröffnung des Prozesses gegen die führenden überlebenden Köpfe der besiegten Diktatur hielt Jackson am 20. November 1945 eine Rede, die am nächsten Tag in den Zeitungen der ganzen Welt nachzulesen war. Seine Botschaft: Das Recht muss vor historischen Verbrechen nicht kapitulieren.
»Die Untaten, die wir zu verurteilen und zu bestrafen suchen, waren so ausgeklügelt, so böse und von so verwüstender Wirkung, dass die menschliche Zivilisation es nicht dulden kann, sie unbeachtet zu lassen, sie würde sonst eine Wiederholung solchen Unheils nicht überleben.« Was in Nürnberg nun gelte, sagte Jackson, sei »eines der bedeutsamsten Zugeständnisse, die die Macht jemals der Vernunft eingeräumt hat«: »Nicht Rache«, sondern »Richterspruch«
solle auf historisches Unrecht folgen, die »Ordnung der Welt nach den Grundsätzen des Rechts« werde künftig für Frieden unter den Völkern sorgen.
Diese Amerikaner. Im Gerichtssaal haben sie geweint, als der Jurist fertig war. Frieden durch Recht: Die Idee, erstmals verkündet im zerbombten Nürnberg, wurde zur Gründungsidee der Vereinten Nationen, zum Ursprung der Charta der Menschenrechte. Nürnberg, Nuremberg, ist heute unter den Völkerrechtlern in aller Welt und in allen Sprachen zum Kürzel für den Triumph des Rechts über politisch
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