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Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch

Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch

Titel: Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Großbongardt
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Jahrhundertwende als Grubenarbeiter in das deutsche Kohlengebiet gezogen sind und deren Nachkommen sich oft der polnischen Herkunft ihrer Familie gar nicht mehr bewusst sind? Die Polen in Deutschland sind eingewandert, in Schlesien dagegen leben Polen und Deutsche schon seit Jahrhunderten Tür an Tür.
    Einmal ist Norbert Rasch offenbar zu weit gegangen. Ein Urlaub in Italien stand bevor, und vorher schrieb er noch schnell einen Brief an den Woiwoden. 2011 jährt sich nämlich
der von polnischen Nationalisten ausgelöste Aufstand in Oberschlesien von 1921 zum 90. Mal. Rasch fragte, ob denn 150 000 Zloty (etwa 38 000 Euro), die für die Feierlichkeiten veranschlagt sind, nicht ein wenig hoch gegriffen seien. Zum Festtag sollen die entscheidenden Kämpfe am Annaberg mit Laienschauspielern in Originaluniformen nachgestellt werden. Außerdem müsse man ja auch bedenken, dass die Deutschen auf die Ereignisse von damals einen »etwas anderen Blick« haben.
    1921 hatte sich eine Mehrheit der Oberschlesier dafür ausgesprochen, dass ihre Heimat Teil des Deutschen Reichs bleiben sollte. In der Nacht vom 2. auf den 3. Mai schlugen polnische Oberschlesier los – obwohl Warschau offiziell verlautbart hatte, diesen Aufstand nicht unterstützen zu wollen. Polnische Nationalisten aus anderen Teilen des Landes eilten zu den Waffen. Die Deutschen rüsteten nun ihrerseits auf, sie unterhielten zudem Unterstützung von den als rabiat bekannten Freikorps. Das waren Angehörige ehemaliger Reichswehrverbände, die nach der Demobilisierung 1918 arbeitslos geworden waren. Auf dem Annaberg, 30 Kilometer von Oppeln entfernt, schlugen die Deutschen die Polen. Schließlich erzwangen die Siegermächte des Ersten Weltkriegs einen Waffenstillstand – und Oberschlesien wurde geteilt. Mehrere tausend Menschen starben bei den Kämpfen.
    Die Propaganda der Kommunisten, die ihre Moskau-Treue gern mit Superpatriotismus kompensierten, hat den Aufstand in die heldenhafte polnische Geschichte eingegliedert. Danach bestand das Los der polnischen Nation seit Jahrhunderten darin, tapfere, aber aussichtslose Kämpfe gegen feindliche Besatzungsmächte zu führen.
    Und so sehen es noch heute wohl viele: Die Aufregung, die sein Brief auslöste, schreckte Rasch im Urlaub auf. Die
Woiwodschaftsregierung tobte, die Presse schäumte über einen »Anschlag auf den Aufstand«. »Ich habe solch eine Reaktion nicht erwartet«, sagt er. »Ich wollte lediglich anregen, dass man den Aufstand auch als Tragödie sehen kann.« Schließlich standen die Aufständischen nicht einer feindlichen Militärmaschinerie gegenüber, die ihr Land überfallen hatte, sondern ihren Nachbarn, Schlesiern. »Das war ein Bruderkrieg, darüber muss man doch reden können«, sagt Norbert Rasch. »Aber so weit sind wir wohl nicht – noch nicht.«

ANHANG

    Buchhinweise
    Detlev Brandes u. a. (Hg.) : Lexikon der Vertreibungen, Böhlau Verlag, Wien, 2010.
    Das erste Nachschlagewerk zu Deportation, Zwangsaussiedlung und ethnischen Säuberungen im Europa des 20. Jahrhunderts.

    Wlodzimierz Borodziej: Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, Verlag C.H. Beck, München, 2010.
    Der polnische Historiker analysiert die Geschichte seines Landes ohne nationales Pathos.

    Ingeborg Fleischhauer: Die Deutschen im Zarenreich. Zwei Jahrhunderte deutsch-russische Kulturgemeinschaft, Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart, 1986.
    Ein Standardwerk über die Rolle deutscher Einwanderer bei der Entwicklung Russlands unter Katharina der Großen.

    Peter Glotz: Die Vertreibung. Böhmen als Lehrstück, Ullstein Taschenbuch Verlag, Berlin, 2004.
    Der 2005 verstorbene SPD-Politiker stellt die Vertreibung aus Böhmen in den historischen Kontext.

    Eva Hahn, Hans Henning Hahn: Die Vertreibung im deutschen Erinnern. Legenden, Mythos, Geschichte, Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn, 2010.
    Die Historiker machen eine kritische Bestandsaufnahme.

    Helga Hirsch: Entwurzelt. Vom Verlust der Heimat zwischen Oder und Bug, Edition Körber-Stiftung, Hamburg, 2007.

    Mit Zeitzeugen in Polen, der Ukraine, Deutschland und Israel sprach die frühere Polen-Korrespondentin über deren Leben, das vom dramatischen Verlust der Heimat geprägt war.

    Peter Oliver Loew: Danzig. Biographie einer Stadt, Verlag C. H. Beck, München, 2011.
    Porträt einer stolzen Hansestadt zwischen deutscher und polnischer Geschichte.

    Dieter Schenk: Wie ich Hitler Beine machte, C. Bertelsmann Jugendbuch Verlag, München, 2003.
    Die Geschichte einer Danziger Jüdin

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