Die Diagnose: Thriller (German Edition)
reichlich. Er hatte nicht nur mitangesehen, wie seine Exfreundin mich geküsst hatte, er wusste auch, dass ich der Psychiater war, der Harry aus dem Krankenhaus entlassen hatte, bevor der seinen Vater erschoss. Ich erinnerte mich an Rebeccas Kleid, das von der Schulter bis zur Taille aufgeschlitzt gewesen war. Er hatte wohl gedacht, es gehörte Anna.
Mehr Zeit zum Nachdenken hatte ich nicht, bevor Nathan sich wieder auf mich stürzte, meine Schultern mit den Knien in den Boden drückte und mir mit seinem ganzen Körpergewicht den Atem raubte. Er legte mir die Hände um den Hals und drückte zu. Ich konnte mich nicht rühren – sein Gewicht machte es mir unmöglich, mich freizukämpfen – und kriegte kaum noch Luft.
»Mörder!«, schrie er.
Doch in seinem gequälten Gesicht sah ich etwas, was mir Hoffnung gab. Er weinte. Tränen liefen ihm über das Gesicht, einige tropften zu Boden. Er will mich nicht umbringen , dachte ich. Er weiß nicht, was er tut . Gleich würde ich das Bewusstsein verlieren, viel Zeit hatte ich nicht. Ich kratzte meine letzten Energiereserven zusammen, warf den Kopf ruckartig zur Seite und drückte die Schultern hoch, um mich aus seinem Griff zu befreien.
»Nathan!«, krächzte ich. »Nathan. Hören Sie auf.«
Erneut packte er meinen Hals und drückte zu, doch dann wurden seine Hände schlaff und lösten sich. Er saß immer noch auf mir, doch als ich hochschaute, hatte er die Hände vors Gesicht geschlagen und zitterte am ganzen Körper. Die Feindseligkeit strömte aus ihm heraus wie seine Tränen.
»Es tut mir leid, Nathan«, sagte ich und spuckte ein Ästchen aus. »Ich habe deinen Vater nicht umgebracht. Es tut mir leid.«
Er verpasste mir eine Ohrfeige, doch in seinem Schlag war keine Kraft mehr – der Angriff war vorüber. Dann hob sich sein Gewicht von mir, und er setzte sich wortlos auf den Waldboden, zog die Knie an, schlang die Arme darum und weinte. Ich atmete ein paarmal tief durch und setzte mich auf. Mein Knöchel tat höllisch weh, und mein Hals war rau, doch davon abgesehen ging es mir gut. Wir blieben sicher eine Viertelstunde so im Wald sitzen, ohne zu reden, und warteten ab, bis die Panik sich legte. Dann gingen wir zu seinem Wagen – ich humpelte wegen meines verletzten Knöchels.
Es dauerte ein Weilchen, bis er anfing, darüber zu sprechen, wieso er sich darauf fixiert hatte, dass ich verantwortlich war für alles, was in seinem Leben schiefgelaufen war. Doch dann floss es unkontrolliert über eine Stunde lang aus ihm heraus. Ich saß da und hörte zu, wie ich es in meiner Ausbildung gelernt hatte, warf nur ab und zu etwas ein, um ihn davon zu überzeugen, dass ich unschuldig war – auch wenn ich keineswegs davon überzeugt war, wirklich unschuldig zu sein. Er war nur ein paar Jahre jünger als ich, doch er kam mir vor wie ein Kind. Er tat mir leid. Er war ausgenutzt worden, um die Wahrheit über Greenes Tod zu verschleiern. Obwohl er die Arroganz seines Vaters geerbt hatte, mochte ich ihn fast ein wenig. Er gehörte in Therapie, doch ich würde mich nicht freiwillig melden. Das Beste, was ich für ihn tun konnte, war, seine beiden Überfälle auf mich und die Verwüstung in meiner Wohnung zu vergessen.
Es war ruhig dort – es war niemand in der Nähe. Einmal hörte ich vom Rollfeld einen Motor, und als ich rüberschaute, landete in der Ferne ein kleines Flugzeug. Abgesehen davon waren wir allein. Wenn er mich wirklich hätte umbringen wollen, hatte ich ihn an den perfekten Ort geführt.
Als wir fertig waren, nahm ich ihm das Versprechen ab, in die Stadt zurückzufahren und auf meinen Anruf zu warten. Er hatte sämtlichen Widerstand aufgegeben, und ich verließ mich darauf, dass er tat, was ich sagte. Mein Knöchel schmerzte höllisch, und er fuhr mich zu meinem Wagen, der immer noch allein auf dem Parkplatz stand. Ich lenkte ihn durch den Wald zur Hauptstraße und fuhr weiter zu der Frau, wegen der ich in seine Schusslinie geraten war.
27
An der Abzweigung zu der schmalen Straße hielt ich an und stieg dort aus dem Wagen, wo Bruce Bradley an jenem Tag gestanden hatte. Zu meiner Linken war die Straße zum Meer, wo der Wind jetzt die Gischt von grünen Wellen fegte. Der Strand war wie gewohnt leer. Die Hecken und Blumen entlang der schmalen Straße waren grün, und von einem in Formschnitt gebrachten Strauch im Garten vor einem Haus in der Nähe wehten Blüten über Rasen und Einfahrt.
Auf halbem Weg die schmale Straße entlang parkte vor einem Haus, an dem
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