Die Diagnose: Thriller (German Edition)
jemand etwas umbauen ließ, eine Reihe von Baufahrzeugen. Im Großen und Ganzen herrschte Ruhe – unterbrochen nur vom Wind, der in den Telefonleitungen pfiff, und dem fernen Donnern des Meeres. Ich spähte die schmale Straße rauf zum Haus der Shapiros, konnte aber kein Lebenszeichen erkennen. Ich versuchte mir vorzustellen, wie es an jenem Sonntag gewesen war, an dem Polizeifahrzeuge die schmale Straße verstopften und Pagonis und Hodge Harry abholten, um ihn nach Yaphank zu bringen.
Ich dachte daran, was Nathan mir eben erzählt hatte, und versuchte es mit dem in Einklang zu bringen, was ich sonst noch erfahren hatte. Ich hatte so lange geglaubt, dass Harry Greene erschossen hatte – alle hatten es geglaubt. Er hatte es gestanden, nicht nur bei der Polizei, sondern auch mir gegenüber. Aber was, wenn er gelogen hatte? Annas Worte, Psychiater würden sich nicht davon überzeugen, ob ihre Patienten ihnen auch die Wahrheit sagten, ging mir nicht mehr aus dem Sinn. Für uns ist die Wahrheit etwas, was im Patienten zu finden ist, nur er kann sie aus seinem Unterbewusstsein ausgraben. Wir gehen davon aus, dass er versucht, ehrlich zu sein, und manches nur einfach nicht über sich selbst weiß. Deswegen bezahlt er uns, um zu reden.
Doch das meiste von dem, was ich erfahren hatte, seit ich Harry kennengelernt hatte, waren Halbwahrheiten und Täuschungen gewesen – nicht die Verdrehungen, mit denen Menschen sich gemeinhin trösten, sondern offenkundige Lügen. Herausgefunden hatte ich das erst, als ich die Regeln meines Berufsstands gebrochen hatte. Dabei war die größte Täuschung die Tatsache, die ich nie in Zweifel gezogen hatte, nämlich dass Harry der Chef gewesen war. Er war der Vorstandsvorsitzende gewesen, der Banker, der die Wall Street regiert hatte. Um ihn herum hatten sich, wie Felix versichert hatte, Diener und Höflinge geschart. Mir war nicht klar gewesen, dass in Wirklichkeit einer von ihnen die Strippen zog.
Ich ging zum Auto zurück und fuhr die schmale Straße entlang und hielt dabei wachsam Ausschau nach Menschen, doch die weißen Tore und die Bäume taten, wozu sie da waren, und schirmten Rasenflächen und Häuser vor neugierigen Blicken ab. Am Fuß der Einfahrt zu den Shapiros bremste ich und betrachtete aus dem Seitenfenster das Anwesen. Immer noch nichts. Ich lenkte den Wagen in die Einfahrt und nahm die Steigung diesmal in gleichmäßigem Tempo. Auf dem rechteckigen gekiesten Platz vor dem Haus hielt ich an. Ein paar Meter an der Tür mit dem Serviceschild vorbei klopfte ich an die Küchentür, schirmte mit der Hand die Augen vor dem grellen Licht vom Meer ab und linste durch das Fenster in den leeren Raum. Dann betrat ich den Rasen hinter dem Haus, um durch die Scheiben des Wintergartens ins Wohnzimmer zu spähen. Die Handwerker hatten gute Arbeit geleistet, der Tatort erstrahlte in frischen Farben wie ein Kuchen mit Zuckerguss.
Hinter mir hörte ich ein Schwirren und wandte mich abrupt um, doch es war nur ein Vogel, der ein Bad im Pool nahm und das Wasser in hohem Bogen aus dem Gefieder schüttelte. Mein Knöchel plagte mich, und ich humpelte ums Haus zurück zu meinem Wagen. Ich legte eine Hand aufs Dach und senkte den Blick auf den Kies unter meinen Füßen, als könnte ich dort, wenn ich mich nur ordentlich anstrengte, alle früheren Reifenspuren sehen.
Ich hockte mich hin und fuhr mit einer Hand über den Kies; die scharfkantigen Steine kratzten schmerzhaft über meine Handfläche. Dabei bemerkte ich aus dem Augenwinkel, dass die Vorhänge in einem Fenster des einstöckigen Hauses auf der anderen Straßenseite sich bewegten: das Gästehaus der Shapiros. Als ich richtig hinschaute, rührte der Stoff sich nicht mehr, aber ich war mir sicher, dass ich mich nicht getäuscht hatte. Langsam ging ich die Einfahrt hinunter, ließ das Auto stehen und betrachtete das Fenster. Unten überquerte ich die schmale Straße und öffnete das kleine Holztor, das zum Eingang führte. Das Gästehaus war ein weiß verschaltes Cottage, nicht so aufwendig konstruiert wie das Wohnhaus, aber trotzdem sehr hübsch. Der Rasen war ordentlich gemäht, und in ovalen Beeten waren Rhododendren gepflanzt, der Boden mit Rindenmulch abgedeckt.
Als ich, die Hand noch am Tor, innehielt, ging die Haustür auf, und vor mir stand Anna. Sie trug ein rosafarbenes Kleid mit Perlmuttknöpfen auf einer ausgebogten Knopfleiste , die zwischen ihren Brüsten bis zum Bauchnabel lief, und dieselben schwarzen Flip-Flops wie an dem
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