Die Diagnose: Thriller (German Edition)
der Psychiatrie hatten wir oft das Problem, dass die Patienten überzeugt waren, sie könnten ihren eigenen Seelenzustand ziemlich gut einschätzen, und je gestörter sie waren, desto eher glaubten sie, es ginge ihnen gut. Hier stand Harrys Meinung gegen meine.
»Wenn wir ihre Unterstützung verlieren würden, wäre das eine Tragödie, nicht nur für uns, sondern für viele Patienten.«
»Das verstehe ich, aber …«
»Also, schauen Sie. Das Letzte, was ich will, ist, mich in Ihre Behandlung einzumischen, aber es gibt doch sicher eine Möglichkeit, sich außerhalb dieser Mauern um Mr Shapiro zu kümmern?«
»Nun …« Ich hielt inne, während ich fieberhaft nach einem Ausweg suchte. »Ich habe mit Mr Shapiro besprochen, dass wir später mit seiner Frau reden und gemeinsam einen Behandlungsplan aufstellen.«
Duncan bedachte mich mit einem frostigen Lächeln und stand auf. »Gut. Die Entscheidung liegt ganz bei Ihnen.« Sie ging zu ihrem Schreibtisch, und ich war schon halb zur Tür hinaus, als sie noch leise hinzufügte: »Aber sorgen Sie dafür, dass es die richtige ist.«
Harry saß mit Nora in der an eine Hotellobby erinnernde Patientenlounge auf York Ost. Sie war halbwegs anständig möbliert und verfügte über einen Flachbildfernseher − gegenüber dem alten Kasten, der in Zwölf Süd an die Decke montiert war, ein echter Fortschritt. Sonst war niemand im Raum, nur die beiden, die mit verschränkten Händen auf einem Sofa saßen.
Nora löste ihre Hand und stand auf, Harry blieb allein sitzen. »Freut mich sehr, Sie wiederzusehen, Dr. Cowper«, sagte sie.
Als ich ihr gegenüberstand, hatte ich dasselbe Gefühl wie beim ersten Mal. Sie war nicht wie Harry oder Duncan, die andere, ohne zu zögern, einschüchterten. Sie verhielt sich nicht wie ein Mensch mit Macht oder jemand in einer höheren gesellschaftlichen Position − sie wirkte eher überrascht, überhaupt in dieser Position zu sein. Nach meiner Begegnung mit Duncan war mir klar, wollte ich nicht entweder etwas tun, womit ich sehr unglücklich war, oder etwas, womit ich mich bei meinem Arbeitgeber unbeliebt machte, bestand meine einzige Chance darin, Nora davon zu überzeugen, dass ihr Mann ein paar Tage hierbleiben sollte. Das erforderte, dass ich offen mit ihr sprach.
»Vielleicht sollten wir uns kurz unter vier Augen unterhalten. Hätten Sie etwas dagegen, wenn wir Ihr Zimmer zehn Minuten in Beschlag nehmen, Mr Shapiro?«
Harry nickte vorsichtig, als wären ihm meine Absichten nicht ganz geheuer, doch er wusste auch nicht, mit welcher Begründung er es mir abschlagen sollte. Ich schloss Harrys Schlafzimmertür hinter uns und wandte mich um. Nora saß schon auf dem Bett, die Beine überkreuzt, ein Fuß auf dem Boden. Mich neben sie aufs Bett zu setzen erschien mir zu vertraulich, und ich überlegte, stehen zu bleiben, doch das hätte leicht sehr formell gewirkt. Ich musste ihr ein wenig schmeicheln, um sie davon zu überzeugen, Harry bei uns zu lassen, also wählte ich einen Kompromiss und setzte mich möglichst weit weg ans Kopfende des Betts.
»Ihr Mann hat mir gesagt, dass er nach Hause will, Mrs Shapiro. Wie stehen Sie dazu?«, setzte ich vorsichtig an.
»Ich weiß nicht, was das Beste für ihn ist, Doktor. Er ist sehr durcheinander, und ich glaube, er macht mir Vorwürfe, weil ich ihn hergebracht habe. Dabei wollte ich doch nur helfen.«
Sie wirkte zerbrechlich, und ich sah, dass sich um ihre Augen winzige Fältchen bildeten, als sie die Stirn runzelte. Es gefiel mir, dass sie sich nicht − wie es bei Duncan der Fall zu sein schien − den Chirurgen an der Upper East Side anvertraut hatte. In ihren Kreisen erforderte es ein gewisses Maß an Nervenstärke, sich dem Gruppendruck, ein vollkommen ausdrucksloses Gesicht zu haben, zu widersetzen.
»Sie haben das Richtige getan, aber ich mache mir Sorgen um die augenblickliche Gemütslage Ihres Mannes. Ich bin überzeugt, dass er genesen wird, aber ich wäre um einiges froher, wenn Sie ihn überzeugen könnten, ein paar Tage hierzubleiben, um wenigstens mit seiner Behandlung beginnen zu können.«
»Haben Sie Sorge, dass er …?«
Ihre Stimme verlor sich, und ich sah fest in ihre sanften Augen, um meine Chance nicht zu vertun.
»Ganz offen gesagt, mache ich mir immer noch Sorgen, dass er sich etwas antun könnte. Wenn Sie ihm raten würden hierzubleiben, würde er sicher auf Sie hören.«
Nora senkte zögernd den Blick. »Ich weiß nicht, ob ich das kann. Er ist sehr unglücklich, und er
Weitere Kostenlose Bücher