Die Diagnose: Thriller (German Edition)
Anna am Steuer, war nicht viel anders, als in Harrys Gulfstream zu sitzen mit Felix als Fremdenführer. Es blieb alles in der Familie.
Sie kicherte. »Nicht mal von einem kleinen. Egal, Nora muss nicht weit suchen. Er hat das ganze Anwesen verdrahten lassen. Ich bin nie außer Reichweite.«
»Wie ist das?«
»Ähm, schauderhaft? Es ist schön, für eine Nacht in die Stadt zu entkommen. Schauen Sie mal da drüben. Das ist im Augenblick das große Ding hier«, sagte sie und zeigte auf der Beifahrerseite aus dem Fenster. Wir waren durch ein Labyrinth von Straßen mit riesigen Rasenflächen gefahren und hatten die Kreuzung zur Hauptdurchgangsstraße erreicht. Dort lag inmitten einer makellosen Rasenfläche ein langer, geschwungener Teich.
»Was?«, fragte ich, denn mir fiel nichts Besonderes auf.
»Die Schwanenmutter sitzt auf ihrem Nest am Teich. Letztes Jahr hatte sie fünf junge Schwäne, und alle haben von nichts anderem mehr geredet. Ich hatte das Gefühl, den Verstand zu verlieren.«
Während sie das sagte, ging sie aufs Gas, und wir schossen aus dem Dorf, als würden wir verfolgt. Sie schien, genau wie ich, umso munterer zu werden, je weiter sie das Haus hinter sich ließ. Schweigend sausten wir eine Weile die Route 27 runter, und ich versuchte ab und an, unbemerkt einen kurzen Blick auf ihr Gesicht zu erhaschen. In mir regte sich etwas, was ich lange nicht gespürt hatte. Es war dumm, weil ich nichts dagegen machen konnte. Es wäre bestimmt nicht klug, eine Affäre mit Harrys Haushälterin anzufangen, selbst wenn ich Chancen bei ihr gehabt hätte – wovon ich nicht ausging. Doch ich wollte das aufregende Gefühl möglichst lange genießen, auch wenn nichts daraus werden konnte.
Ich dachte an den Blick, mit dem sie mich bedacht hatte, als sie in der Küche stand, ein Blick, der andeutete, dass sie alles über mich wusste, obwohl wir uns eben erst kennengelernt hatten. Sie konnte all die bösen Dinge in mir sehen − meine Grausamkeit, meine Kaltherzigkeit −, und es war ihr egal. Das spielte sich alles nur in meiner Phantasie ab, doch so ein Gefühl weckte sie in mir. Es war wie damals als Teenager, als ich mich zum ersten Mal verliebt hatte – das Gefühl, jemanden anzubeten aus Gründen, die ich nicht artikulieren konnte, und mich nach ihr zu verzehren. Laura Kendrick hatte sie geheißen, und es hatte ein Jahr angedauert. Laura war längst verheiratet und hatte zwei Kinder. Ich lächelte in mich hinein.
»Was?«, fragte Anna. Ich hatte nicht bemerkt, dass sie mich angesehen hatte.
»Nichts.«
Traurig war, dass dieses Gefühl mich nicht an Rebecca erinnerte. Ich hatte sie gerngehabt, sie bewundert, sie sogar geliebt, doch ich hatte sie nie auf diese verzweifelte, unentrinnbare Art begehrt. Ich hatte immer Dinge vor ihr verborgen, und ich hatte Schuldgefühle, dass sie mich so sehr geliebt hatte. Das bin nicht ich , wollte ich zu ihr sagen. Der Mann, den du liebst . Er ist ein besserer Mensch als ich . Ich hatte diese Worte nie gesagt, denn ich hatte sie sehr gerngehabt und hatte sie nicht verletzen wollen, doch sie hatte es erkannt und war gegangen. Sie hatte mir den Schmerz erspart, sie fallen zu lassen.
Ich hatte einen wiederkehrenden Traum von Rebecca. Ich befand mich auf den Stufen des Metropolitan Museum of Art, neben mir stand meine Mutter, und ich sah ihre grauen Haare und ihr weiches, freundliches Gesicht. Wir unterhielten uns − ich wusste nicht, worüber, aber es machte mich glücklich. Dann blickte ich die Stufen hoch und sah Rebecca in einem Sommerkleid. »Komm«, sagte ich zu meiner Mutter, und wir gingen hinter ihr her. Doch drinnen konnten wir sie nicht finden und jagten durch die Ausstellungsräume, meine Mutter jetzt voran. Dann kamen wir in einen Raum, wo eine Party gefeiert wurde, es war voll, es wurde Champagner getrunken, die Menschen standen um ein Gemälde herum.
Ich trat näher und sah, dass das Gemälde eine nackte Frau darstellte, die auf einem Sofa lag. Sie war schön, und ich streckte den Arm aus und fasste nach ihrer Brust, die warm und weich war unter meiner Berührung. Dann rief meine Mutter mich und zeigte auf ein Fenster, durch das Rebecca geklettert war. Ich sah, dass Rebecca an einem Seil in den Central Park hinuntergeklettert war und jetzt über die Wiese zu einer Baumgruppe lief.
»Becca!«, rief ich, doch sie drehte sich nicht um.
Damit endete der Traum.
Wir waren uns im Episcopal begegnet, zwei Jahre nachdem ich nach New York gekommen war; meine Mutter und
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