Die Diagnose: Thriller (German Edition)
sie hatten sich nicht mehr kennenlernen können. Ich hatte mir immer eingebildet, sie wären gut miteinander zurechtgekommen − beide waren nett und loyal. Bei unserer ersten Verabredung sagte sie, ich sei anders als andere Psychiater, was ich als Kompliment verstand. Wir saßen in einem Restaurant an der Upper East Side, bei einem der Italiener, die Institutionen sind, obwohl sie es nicht mehr verdient haben. Ich verbrachte die Mahlzeit hauptsächlich damit, ihre Gegenwart zu genießen, und als wir gingen, drehte sie sich zu mir um, um geküsst zu werden.
Trotz der Fragen, die das aufwirft, hatte ich mich für Psychiatrie entschieden. Bei der Aufnahme an der medizinischen Fakultät suchen sie nach einem gewissen Maß an Empathie, denn sie wollen keine Wissenschaftler, die nicht mit Menschen reden können. Doch die heiß umkämpften Studienplätze sind die für Kardiologie, Radiologie oder HNO, der Einstieg in die plastische Chirurgie − alles, was teure Behandlungen einbringt und minimale Gespräche. Andere Assistenzärzte haben die Psychiater im Verdacht, faul zu sein oder verrückt. Faul, weil in der Psychiatrie, abgesehen von Notdiensten, wenige Nachtschichten anfallen. Verrückt, weil viele sich durch eine Affinität zu ihren Patienten davon angezogen fühlen. Entweder waren sie selbst komisch − arbeiteten sich an einem inneren Dämon ab, indem sie die inneren Dämonen anderer aufstöberten −, oder es gab da etwas in ihrer Familie. Schuldig in beiden Punkten.
Als Anna keine Anzeichen machte, das Schweigen zu brechen, tat ich es nach einer Weile. Ich verstand nicht, was sie in East Hampton machte, besonders angesichts ihrer Skepsis gegenüber dem Ort. Es schien nicht ihre natürliche Umgebung zu sein.
»Wie kommt es, dass Sie für die Shapiros arbeiten?«, fragte ich.
»Wie viel Zeit haben Sie?«
»Ähm, vermutlich bis wir in die Stadt kommen.«
»So lange dürfte es nicht dauern. Wollen mal sehen. Bin auf ein liberales Kunstcollege in Massachusetts gegangen, das sehr von sich überzeugt war, aber ich fand es Mist. Dann bin ich nach New York gekommen und habe eine Stelle als Assistentin des Herausgebers einer Zeitschrift bekommen. Es stellte sich heraus, dass ich gut war, unheimlich gut.«
»Toll.« Ich bemerkte, dass sie meine Frage genutzt hatte, um mir einen kurzen Überblick über ihr ganzes erwachsenes Leben zu geben.
»Allerdings habe ich so viel gearbeitet und mir so verdammt viel abverlangt, dass ich ein bisschen durchknallte. Ich bekam Panikattacken in meiner Bürozelle, bin in Schweiß ausgebrochen und ausgeflippt.«
»Haben Sie sich in Behandlung begeben?«
»Ich habe Medikamente genommen. Die haben mich ein bisschen beruhigt, aber inzwischen wusste ich, dass ich nicht glücklich war, und habe gekündigt.«
»Mutig.«
»Mutig, leichtsinnig, dumm − alles, was ich schon immer war. Egal, ich dachte, ich könnte doch auch Yoga unterrichten, und habe einen Kurs belegt. So hat Nora mich gefunden. Ich hatte bei einem Yogakurs im Y in der zweiundneunzigsten Straße die Vertretung übernommen, und sie war da und sprach mich an. Jetzt bin ich alles: Haushälterin, Köchin, Schuldknecht. Meine Aufgabe ist es, ihnen das Leben leichter zu machen, was auch immer dafür erforderlich ist.« Ihre Stimme hatte einen leicht sarkastischen Unterton, doch ich hörte auch einen Hauch Bitterkeit.
»Wie ist es, für sie zu arbeiten?«
Sie wandte die Aufmerksamkeit von mir ab, um in den Spiegel zu sehen und sich auf den Long Island Expressway einzufädeln. Wir kamen links und rechts an niedrigen Kiefernwäldern vorbei, als wir in Richtung Stadt fuhren. Sie überholte zwei LKWs und beantwortete dann meine Frage, als hätte sie eine Weile darüber nachgedacht.
»Nora ist toll. Ich liebe sie, und sie behandelt mich, als gehörte ich zur Familie. Manchmal ist es schon zu gemütlich mit ihr.«
»Und Mr Shapiro?«
»Harry ist okay«, sagte sie tonlos. »Egal, jetzt wissen Sie alles über mich. Was ist mit Ihnen?«
Als sie mich ansah, war in ihren Augen ein Funkeln. Sie schien mich unterhaltsam zu finden, was immerhin ein Anfang war.
»Was möchten Sie wissen?«
»Okay, Sie sind Psychiater, richtig? Nora hat gesagt, Sie behandeln Harry.«
»Ich fürchte, darüber kann ich nicht reden.« Die Worte kamen steif und schwerfällig aus meinem Mund, und ich wünschte, ich hätte ihr keinen Korb geben müssen.
»Frau, Kinder?«
»Nein.«
»Freundin?«
»Können wir bitte das Thema wechseln?«
Anna grinste.
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