Die Diagnose: Thriller (German Edition)
haben, wich ein wenig, und ich bildete mir ein, allmählich ein Gefühl dafür zu bekommen, was mit ihm los war. Zudem bestand sogar die Aussicht, Harry wieder zurück ins Episcopal zu bekommen, um ihn zu behandeln. Es kann funktionieren , dachte ich.
7
Ich fand Nora in der Küche, wo sie sich mit Anna unterhielt, die auf einer Arbeitsplatte saß und einen Apfel kaute. »Sie sind sich schon begegnet, nicht wahr?«, fragte Nora, und Anna nickte schweigend, denn sie hatte die Zähne in den Apfel vergraben.
»Anna war so freundlich, mich herzufahren«, sagte ich.
»Ich kann Sie in die Stadt zurückbringen, wenn Sie möchten«, sagte Anna, die ihren Bissen heruntergeschluckt und das Kerngehäuse in den Abfalleimer geworfen hatte. »Ich will einen Freund besuchen.«
»Bist du sicher, Anna?«, fragte Nora. »Ich meine, es wäre wunderbar. Ich weiß, dass er möglichst bald zurückwill. Du kannst mein Auto nehmen.« Sie machte einen Schritt auf Anna zu und legte ihr einen Arm um die Schultern, als wären sie Freundinnen und nicht Chefin und Hausangestellte. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich mich auf sie verlasse.«
Anna blickte mich so kühl und abschätzig an, dass ich wegschauen musste. Die Aussicht, mehrere Stunden mit ihr im Auto zu verbringen, war entnervend, doch sie machte mich neugieriger, als ich zeigen mochte.
»Ich warte draußen auf Sie«, sagte sie, rutschte von der Arbeitsplatte und tappte leise aus dem Zimmer.
Nora wartete, bis die Tür hinter ihr zugegangen war, und sah mich dann nervös an. »Wie war er?«, fragte sie.
»Gut, glaube ich«, sagte ich. »Seine Stimmung scheint sich zu bessern, und er war einverstanden, am Montag zu mir zu kommen. Solange er seine Medikamente nimmt und regelmäßig zu mir kommt, ist die Prognose ausgezeichnet.«
Nach allem, was sie durchgemacht hatte, hoffte ich, sie beruhigen zu können, aber es stimmte auch. Harry schien nicht unter einer chronischen Depression zu leiden, und er zeigte schon wieder die ersten Zeichen für Lebendigkeit. Mit ein wenig Glück machte er gerade die einzige derartige Episode in seinem Leben durch, und dass ich das Risiko eingegangen war, ihn aus dem Krankenhaus zu entlassen, zahlte sich womöglich aus. Er musste den Verlust seines Jobs verkraften, doch den meisten Menschen gelang das mit der Zeit, und die Shapiros saßen nicht gerade auf der Straße. Vielleicht hatte ich soeben eine Karriere als Therapeut für Wall-Street-Milliardäre angestoßen.
»Das ist toll. Ich bin sehr erleichtert«, sagte Nora, atmete aus und entspannte die Schultern. Ich war froh, dass ich ihr gute Nachrichten hatte bringen können – sie verdiente es dafür, dass sie zu ihm gehalten hatte.
»Aber Sie müssen ihn trotzdem gut im Auge behalten«, sagte ich. »Wir wollen nicht, dass jetzt noch was schiefgeht.«
»Mache ich, Doktor. Absolut«, erwiderte sie strahlend.
Als ich nach draußen kam, stand Anna mit dem Rücken zu mir am Range Rover und schaute über das Meer. Ich gönnte mir noch einen Blick auf ihren graziös gebogenen Hals, bevor sie mich hörte und sich umdrehte. Im Licht des Ozeans wirkten ihre Augen hellblau.
»Bereit?«, fragte sie.
»Alles erledigt. Sehr nett von Ihnen, dass Sie mich mitnehmen. Wenn Sie mich am Bahnhof absetzen, wäre das sehr freundlich.«
»Wenn ich das machen würde, müssten Sie sehr lange warten. Hier pendeln die Leute per Hubschrauber, wissen Sie.« Sie kam herüber, legte den linken Zeigefinger auf mein Revers und schob mich sanft nach hinten. »Steigen Sie in den Wagen, Doc.«
Ich gehorchte ihr und erinnerte mich an das angenehme Gefühl des kurzen Körperkontakts, während sie den Range Rover die Zufahrt hinunter auf die schmale Straße lenkte. Sie wusste, was für einen Beruf ich hatte, ging mir auf, aber sie hatte es mir auf spielerische Art gezeigt. Zwischen ihr und Nora gab es sicher nicht viele Geheimnisse. Als wir an einem niedrigen Cottage vorbeifuhren, das ein Stück von der Straße zurück stand, zeigte sie nach links.
»Das ist das Gästehaus, falls sie Sie noch mal hier rausbeordern. Ich schleiche mich manchmal zum Yoga rüber oder für ein Nickerchen. Wie Goldlöckchen.«
»Sind Sie je von einem Bären aufgeweckt worden?«, fragte ich leichthin, froh darüber, das Anwesen der Shapiros endlich verlassen zu haben, und mit dem Gefühl, allmählich wieder Kontrolle über mein Leben zu bekommen. Natürlich hätte mir klar sein müssen, dass das eine Illusion war. In Noras Auto zu sitzen, mit
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