Die Diagnose: Thriller (German Edition)
waren, wie sich herausgestellt hat, kurz nachdem Sie Mr Shapiro aus dem Krankenhaus entlassen haben, in seinem Haus in East Hampton.«
Woher weiß sie das?, dachte ich. In East Hampton waren nur drei Personen zugegen gewesen − Nora, Anna und Harry. Einer von ihnen musste Pagonis erzählt haben, was an dem Tag passiert war, und schon hatte sie die Schlinge um meinen Hals enger gezogen. Es kam mir vor, als würden sie viel schneller agieren, als Joe vorhergesagt hatte.
Pagonis feixte. »Ich wette, er hat Ihnen sein Herz ausgeschüttet.«
»Sie hätten sich nicht eigens herbemühen müssen«, sagte ich und stand auf, um sie aus dem Zimmer und aus meiner Wohnung zu scheuchen.
»Es war die Fahrt wert«, erwiderte sie.
Nachdem sie fort waren, machte ich mir einen Tee, setzte mich an den Küchentisch und dachte darüber nach, was Pagonis gesagt hatte. Vielleicht war es dumm gewesen, sie zu provozieren − es hatte nur dazu geführt, dass sie etwas ausgegraben hatte, was sie gegen mich nutzen konnte −, aber wahrscheinlich hätte sie es eh herausgefunden. Was hat sie noch im Ärmel?, überlegte ich. Sie hatte recht überzeugt gewirkt, dass es sich lohnte, mich vor eine Grand Jury zu zerren, wogegen Joe ja geglaubt hatte, Baer würde das Risiko nicht eingehen wollen.
Ich dachte zurück an den Tag am Strand. Vielleicht hatte Pagonis recht: Harry hatte mir damals einen Hinweis darauf gegeben, was er im Schilde führte, und ich hatte ihn überhört. Ich erinnerte mich nur noch daran, dass ich froh gewesen war, dass er nicht mehr so depressiv und launisch war. Aber vielleicht konnte man seine bessere Stimmung auch noch anders interpretieren: Er hatte sich inzwischen entschlossen, Greene umzubringen, also tyrannisierten seine Ängste ihn nicht mehr so.
Ich schloss die Augen und versuchte mich zu erinnern. Die Wellen waren auf den Strand gerollt, und Harry war niedergeschlagen zum Haus zurückgegangen. Warum war er überzeugt gewesen, sein Leben wäre zerstört?, dachte ich. Menschen mit Depressionen denken das oft, aber sie folgen ihrer ganz eigenen Logik. Irgendetwas oder irgendjemand gibt ihnen das Gefühl, in der Falle zu hocken, unfähig, sich zu befreien. Wer oder was hatte dieses Gefühl in Harry ausgelöst? Vermutlich doch Greene. Dass er jetzt tot war, war der Beweis dafür. Ich führte mir die Situation noch einmal vor Augen, wie Harry verzweifelt am Fuß der Treppe in die Dünen gestanden und mir von dem Zusammenbruch von Seligman erzählt hatte.
Alles habe ich verloren. Sie haben mich ruiniert , hatte er gesagt.
Nicht er , nicht Greene allein. Sie . Wer waren sie ?, überlegte ich. Waren sie einfach die Schicksalsgötter, denen jeder alles in die Schuhe schiebt, was falsch läuft, oder hatte er jemand Bestimmten gemeint? Wen hatte er im Sinn gehabt, als er das gesagt hatte? Ich erinnerte mich, wie er sich mit der Hand über die Kehle gefahren war − diese gewalttätige Geste − und was für ein gequältes Gesicht er dabei gemacht hatte.
Das Finanzministerium verlangte ein Opfer , hatte er gesagt.
Diese Worte erinnerten mich noch an etwas anderes, etwas, was ich kürzlich gehört hatte, hier, in diesem Raum, vor noch nicht allzu langer Zeit. Dann fiel es mir wieder ein. Ich ging ins Wohnzimmer, um meinen Laptop vom Schreibtisch zu holen, und trug ihn in die Küche. Nachdem ich ihn hochgefahren hatte, klickte ich mich zu der Anhörung vor dem Senat im Archiv von C-SPAN durch, die ich mir erst zur Hälfte angesehen hatte. Als ich Anna am Ende der Aufnahme erblickt hatte, waren sie kurz davor gewesen, dem Finanzminister auf den Zahn zu fühlen.
Ich klickte auf das zweite Video der Sitzung an diesem Vormittag und sah zu, wie die ersten Zeugen ruckartig von der Bildfläche abgingen − Greene mit Underwood an seiner Seite hob den Kopf, und es sah aus, als lachte er. Die Senatoren verließen den Raum, um abzustimmen. Währenddessen war Pause. Schließlich versammelte sich in der vordersten Sitzreihe direkt hinter dem Zeugenstand eine andere Gruppe von Funktionären und Beratern, und ein Senatsbediensteter tauschte Harrys und Greenes Namensschilder durch eines aus, auf dem FINANZMINISTER stand.
Ich ließ das Video wieder langsamer laufen. Jetzt trat ein Mann in den Sechzigern ein. Er sah gut aus und war gebräunt, sein faltendurchzogenes Gesicht wirkte freundlich. Seine Bewegungen waren sparsam, und als die Fotografen ihre Aufnahmen machten, verschränkte er die Hände und schien wie geschaffen für das
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