Die Diagnose: Thriller (German Edition)
Nein, es ist wegen der Männer um mich herum. Ich muss in der Masse untergehen. Männer haben empfindliche Egos, sie messen ihren Wert daran, was sie verdienen. Sie ertragen den Gedanken nicht, eine Frau könnte besser sein als sie.«
» Sind Sie denn besser als sie?«
Sie sah mich kühl an, als überlegte sie, ob sie darauf ehrlich antworten sollte. »Ja, das bin ich tatsächlich, jedenfalls besser als die meisten. Ich arbeite härter, ich höre mehr. Sie sind so mit Angeben beschäftigt, dass sie dem Kunden nicht zuhören. Ich höre zu und greife alles auf, was mir beim Abschluss eines Deals helfen kann. Es ist vermutlich so ähnlich wie bei Ihrem Job.«
»Ich kenne jemanden von Seligman«, sagte ich.
Sie zögerte, und ich sah förmlich, wie ihr Gehirn ratterte, weil sie überlegte, ob ich über Harry sprechen würde. Ich genoss das Gefühl der Macht und dass ich in der Lage war, sie zu schockieren. Sie überlegte, wie weit ich bereit war zu gehen, das sah ich deutlich. Dasselbe fragte ich mich bei ihr.
»Wen?«, fragte sie.
»John Underwood. Wir haben uns zufällig kennengelernt.«
Sie verzog das Gesicht. »Underwood konnte mich nicht leiden, er fand, ich wäre ein Miststück. Ich habe ihn den Milcheis-Typ genannt.«
»Was meinen Sie damit?«
»Als ich an der Wall Street anfing, erzählten mir alle Männer dieselbe Geschichte. Wenn du beim Milcheisverkäufer bist, liebst du Eiscreme. Du liebst Vanille, du liebst Erdbeere – was auch immer er hat. Wenn du beim Joghurteisverkäufer bist, hasst du Eiscreme.«
Sie hielt inne, als hätte sie eine offensichtliche Wahrheit kundgetan.
»Das verstehe ich nicht«, sagte ich.
Sie lachte. Es klang nett, hoch und kehlig, als würde ihr meine Unverblümtheit gefallen. Die makellosen Konturen ihres Gesichts entspannten sich und gaben einen kurzen Blick auf eine andere Frau frei, eine Frau, die viel ungezwungener war.
»Ich versuche es noch einmal«, sagte sie. »Ich berate Vorstandsvorsitzende, sage ihnen, sie sollen diese Firma kaufen oder jene verkaufen oder umstrukturieren. Jedes Mal, wenn ein Deal abgeschlossen wird, bekommen wir ein Honorar. Das können fünf Millionen Dollar sein, das können auch zwanzig Millionen Dollar sein. Auf jeden Fall viel. In der Branche wimmelt es von Lügnern und Egomanen. Und was tun sie? Eiscreme kaufen. Dem Vorstandsvorsitzenden sagen, sie lieben, was auch immer er hat. Alle Deals sind toll.«
»Aber das sind sie nicht?«
»Nein, keinesfalls. Ein paar sind katastrophal, und es ist unsere Aufgabe, die Vorstandsvorsitzenden zu warnen und dafür zu sorgen, dass sie nicht die falschen Deals abschließen. Wenn Sie ihnen sagen, sie sollen einen Deal nicht machen, bekommen Sie kein Honorar, aber es ist der beste Rat, den Sie ihnen geben können.«
Und warum hat Harry niemand gesagt, er solle Greenes Bank nicht kaufen?, dachte ich. Es war das erste Mal, dass mir dieser Gedanke kam. Bis sie es mir erklärte, hatte ich nicht gewusst, wie es an der Wall Street lief. Aus Harrys Mund hatte es geklungen wie ein Händeschütteln zwischen den beiden Männern. Klar, Marcus, wir sehen uns das mal an , hatte er zu Greene gesagt. Aber wenn mit Greenes Bank etwas nicht gestimmt hatte, warum hatte es niemand mitbekommen? Beim wichtigsten Deal von allen – dem, bei dem es um Seligman selbst ging –, hatte Harry Schiffbruch erlitten.
Der Gedanke lenkte mich für eine Minute ab, und als ich aufsah, hatte Lauren einen seltsamen Gesichtsausdruck, als würde in ihr etwas hochkommen. Sie hatte die Lippen geschürzt und starrte mich an.
»Psychiater müssen aber nicht mit ihren Patientinnen schlafen, oder?«, fragte sie.
Sie sah mich neugierig an, als wäre es eine faszinierende akademische Frage und nicht das explosivste Thema der therapeutischen Beziehung überhaupt. In der Therapiesituation entsteht zwischen Psychiater und Patientin die intimste Beziehung, die neben einer sexuellen denkbar ist, wenn auch einseitig. Die Patientin erzählt dem Therapeuten Dinge, die sie niemals jemand anderem anvertrauen würde, allenfalls einem Geliebten. Das macht es gefährlich. Wir haben alles über die Fallstricke sowie das Phänomen der Übertragung gelernt, das Risiko, dass die Therapie in unerlaubte Intimität gleitet.
»Das wäre moralisch inakzeptabel. Ein Missbrauch der therapeutischen Beziehung, der der Patientin schaden würde.«
»Sie würden Ihren Job verlieren?« Ihr Blick war direkt auf mich gerichtet, und mir wurde unbehaglich zumute, als
Weitere Kostenlose Bücher