Die Diagnose: Thriller (German Edition)
beschuldigte sie mich standeswidrigen Verhaltens.
»Ein Psychiater, der so etwas tun würde, würde seinen Job verlieren.«
»Dann ist Ihr Job wie meiner.«
Da begriff ich, dass sie gar nicht über mich sprach, sie meinte sich selbst. Sie hatte den Blick von mir gelöst und wieder in die Ferne gerichtet. Ihre Miene war unverändert, doch zum ersten Mal spürte ich Traurigkeit in ihr, einen ganzen See der Sehnsucht.
»Ich hatte eine Affäre mit Harry Shapiro«, sagte sie ruhig. »Es war schrecklich …« Sie unterbrach sich, als suchte sie nach einem Wort, das groß genug war, und runzelte frustriert und bedauernd die Achseln. »… dumm«, beendete sie ihren Satz.
»Was ist passiert?«
»Underwood war schuld, das ist das Verrückte. Ich arbeitete mit ihm zusammen, aber er ertrug es nicht, dass ich ihn vorführte. Er wollte unbedingt verhindern, dass ich Partnerin wurde, und hat mich blockiert. Er hat mir bei den Deals, die ich reingebracht hatte, die Anerkennung verweigert und mich bei anderen rausgekickt. Das geschah so oft, dass ich beschloss, entweder zu gehen oder mich an Harry zu wenden.
Ich hatte noch nie mit ihm gesprochen, nur bei Meetings mit Kunden. Ich dachte, er wäre ein Tier, wie die Leute sagten. Aber so war er nicht. Er hörte mir zu und zeigte Mitgefühl. Er kümmerte sich um die Sache, sodass Underwood sich zurückhielt. Diese Seite an ihm hatte ich bis dahin noch nicht gesehen. Ich hatte mich gerade getrennt, ich war einsam.«
Ich wartete. Es fiel mir nicht schwer, mich mit meiner Reaktion zurückzuhalten, schließlich hatte ich von der Affäre gewusst, aber es war doch eine Erleichterung. Die Anspannung, mit der ich auf ihre Enthüllung gewartet hatte, hatte sich verflüchtigt. Wir waren wieder auf dem gewohnten Grund zwischen Psychiater und Patientin, wo sie Geheimnisse hütete und nicht ich. Doch mir schwante auch nichts Gutes. Die Tür der ärztlichen Schweigepflicht war über dem Geheimnis von Harrys Affäre zugeschlagen, wie die Türen eines Gefängnisses oder einer geschlossenen Abteilung im Krankenhaus.
»Wie ich schon sagte, ich war dumm. Man ist sehr verletzlich an der Wall Street, all diese Männer, die denken, man wäre nur eine Frau, man hätte den Job nicht verdient. Wenn jemand erfahren hätte, dass ich mit meinem Chef ins Bett gehe, wäre es das Ende meiner Karriere gewesen. Eines Tages kam ich zur Besinnung und suchte mir einen anderen Job. Aber da war es schon fast wieder vorbei.«
»Warum ging es zu Ende?«
Sie deutete ein Lächeln an, als machte sie sich über meine Arglosigkeit lustig. »Es war nur eine Affäre, mehr nicht. Wir sind erwachsene Menschen, wir wollten es so. Er wollte seine Ehe nicht aufs Spiel setzen, und ich musste weiter. Wir hätten uns nicht mitreißen lassen sollen.«
»Stehen Sie noch in Kontakt?«
»Seit ich gegangen bin, haben wir uns nicht gesehen.«
Ihr Blick war ungerührt. Wenn Anna mir nicht erzählt hätte, dass Lauren Harry in East Hampton besucht hatte und sie gesehen hatte, wie Lauren Harrys Kopf gehalten hatte, hätte ich in dem Augenblick wohl nicht gemerkt, dass Lauren log. Ich beneidete die Banker nicht, die mit ihr verhandeln mussten − sie gab nicht das Geringste preis. Die Uhr an der Wand hinter ihr zeigte an, dass es sechs Uhr war, und auch wenn ich gern noch ein wenig gebohrt hätte, wartete der nächste Patient.
»Ich fürchte, unsere Zeit ist um«, sagte ich.
In der Nacht, als von fern das Heulen der Sirenen an mein Ohr drang und ich mich in dem Versuch, Schlaf zu finden, von einer Seite auf die andere wälzte, dachte ich an Anna. Ich hatte sie mehrmals angerufen, seit sie sich im Park von mir abgewandt hatte, und Nachrichten auf ihrer Mailbox hinterlassen, doch sie hatte nicht zurückgerufen.
Ich wollte unbedingt, dass es dafür eine harmlose Erklärung gab, damit wir wieder zu dem Zustand zurückkehren konnten, in dem wir uns vorher befunden hatten, doch es wollte mir nicht recht gelingen, mich davon zu überzeugen. Ich dachte daran, was Nora mir erzählt hatte, als ich sie zum ersten Mal zusammen gesehen hatte, den Arm um Annas Schulter gelegt: Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich mich auf sie verlasse.
Als ich Anna kennengelernt hatte, war sie mir jung und unschuldig vorgekommen, kaum Teil der Welt der Shapiros. Doch sie war Noras Vertraute und Harrys Beschützerin. Sie hatte gesagt, sie würde ihn nicht mögen, doch sie hatte Lauren zu ihm gefahren und Nora das Rendezvous der beiden verheimlicht. Sie
Weitere Kostenlose Bücher