Die Diagnose: Thriller (German Edition)
hatte sich in seinen Dienst gestellt, ungeachtet dessen, was sie von ihm hielt. Jetzt da die Shapiros bedroht wurden, überlegte ich, wie weit Anna gehen würde − oder gegangen war −, um sie zu beschützen.
Mein Name ist wie ich. Ein einziges großes Kuddelmuddel , hatte sie zu mir gesagt. Das war das Bild, das sie von sich projizierte: eine heimatlose Yogalehrerin, die von Nora aufgegriffen worden war und bald weiterziehen würde. Reines Getue, wie mir inzwischen klar war. Anna war die Organisierte. Nora hatte Angst gehabt, ihre eigene Küche zu betreten, doch Anna hatte dafür gesorgt, dass etwas zu essen im Kühlschrank war. Sie hatte sich darum gekümmert, dass das Haus in East Hampton renoviert wurde, um den Mord vergessen zu machen. Sie wusste alles über das Leben der Shapiros, war in ihre Geheimnisse eingeweiht. Ich war Harrys Psychiater, doch sie wusste, was er mir verheimlicht hatte.
An diesem Freitag fuhr ich aus der Stadt raus zu ihr. Auf meinem Armaturenbrett lag der Handschuh, den sie an dem Tag verloren hatte, als sie mich stehen gelassen hatte. Ich nahm die I-495 durch Queens, fuhr an den verfallenen Ruinen der Weltausstellung vorbei und immer weiter, bis die Gebäude am Straßenrand spärlicher wurden und schließlich von Bäumen abgelöst wurden. Die einzigen Orientierungspunkte hier draußen waren die seltsamen Objekte, die aus dem Wald ragten: zwei weiße Wassertürme und ein Handymast, der sich als riesiger Baum tarnte. Er schwebte über dem grünen Horizont, ein weißer Stock mit dunklen Metallästen in unnatürlich regelmäßigen Abständen.
Vor dem Haus der Shapiros stand ein Lieferwagen, und als ich hinters Haus ging und durch die Fenster des Wintergartens spähte, fiel mein Blick auf zwei Handwerker, die auf Leitern standen und die Decke mit weißer Farbe rollten. Anna war am hinteren Ende, sie trug einen Overall und hatte die Haare hochgesteckt und zeigte gerade auf etwas. Ich beobachtete sie eine Minute, bevor sie aufschaute und mich sah. Dabei verhärteten sich ihre Züge, und sie starrte mich an, als wäre ich ein Feind, der einbrechen wollte. Sie ging in die Küche, und als ich ums Haus ging, öffnete sie mir wortlos die Tür.
»Den hast du vergessen«, sagte ich und hielt ihr den Handschuh hin.
Sie sah mich mit gerunzelter Stirn an. »Wenn du schon den weiten Weg auf dich genommen hast, kannst du auch kurz reinkommen«, sagte sie und nahm ihn.
Drinnen schenkte sie mir aus einem Kaffeebereiter Kaffee ein und setzte sich auf einen Stuhl, während ich trank. Zu mehr Gastfreundschaft war sie offensichtlich nicht bereit. Das Schweigen dehnte sich aus, und sie sah sich zerstreut um, als machte ich sie nervös. Als ich zum ersten Mal zum Haus der Shapiros gekommen war, hatte es mich an ein Märchencottage erinnert, doch jetzt fühlte es sich an wie ein finsterer Ort, unwiderruflich gezeichnet durch einen Mord, der seinen Bewohnern sämtliche Energie geraubt hatte. Anna sah nicht besser aus als Nora bei meinem letzten Besuch − genauso blass und mit stumpfem Blick.
»Du weißt, wer mich überfallen hat, nicht wahr?«, fragte ich sie.
Die Frage brachte sie augenblicklich auf hundertachtzig, als wäre sie eh schon übernervös und würde bei der kleinsten Provokation völlig ausrasten.
»Woher soll ich das wissen? Ich habe gesagt, du sollst mich in Ruhe lassen«, fuhr sie auf.
Sie warf mir den Handschuh vor die Füße, ging ins Wohnzimmer und schlug die Tür hinter sich zu. Als ich ihr folgen wollte, schlug mir die Klinke gegen die Fingerknöchel, worauf ich aufschrie und die Hand schüttelte − eine Bitte um Mitgefühl, die ungehört verhallte. Ich trat ins Wohnzimmer, und die Handwerker schauten auf, was das für ein Tumult war.
Schon jetzt konnte man sich kaum noch daran erinnern, wie der Raum vorher ausgesehen hatte. Die Sofas und Möbel waren den Weg des geometrischen Teppichs gegangen. Selbst die Türen zum Wintergarten waren entfernt und durch neue ersetzt worden. Die Männer hatten die Wände in einem zarten Hellblau gestrichen, unter dem die früheren Farben verschwunden waren. Anna war nirgends zu sehen, und einer der Männer sah mich achselzuckend an, wie um anzudeuten, er würde sich mit aufgebrachten Frauen auskennen. Stumm zeigte er auf eine Tür am anderen Ende des Raums. Ich ging den Flur runter und sah, dass die Tür zu Noras Arbeitszimmer offen war. Anna stand am Fenster, das die Einfahrt zur Bucht hin überblickte, den Rücken mir zugekehrt.
»Weißt du noch,
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