Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)
Früherkennung sind die meisten Bemühungen, auch leichtere Anomalien zu diagnostizieren, unter den Medizinern kaum umstritten. In der Regel werden sie sogar befürwortet. Dahinter verbirgt sich in etwa folgende Logik: Zuerst stellen Mediziner fest, dass eine bestimmte Maßnahme die Wirkung einer Therapie bei einer Hochrisikogruppe deutlich verbessert. Dann stellt jemand folgende Hypothese auf: Was für eine Gruppe an der »schweren Seite« des Grades der Anomalie (die Hochrisikogruppe) gut ist, das ist für eine Gruppe an der »leichten Seite« (die Niedrigrisikogruppe) wahrscheinlich ebenfalls gut. Das ist ein Problem der exzessiven Extrapolation.
Das Problem mit der Extrapolation von schwer nach leicht besteht darin, dass wir in der Praxis oft nicht wissen, ob Menschen mit leichten Anomalien den gleichen gravierenden Nutzen haben. Unter gravierendem Nutzen verstehe ich die Verhinderung des Todes oder erheblicher Krankheitskomplikationen (zum Beispiel einer Hüftfraktur oder eines fortgeschrittenen Karzinoms). Diese Ereignisse kommen bei Menschen mit leichten Anomalien so selten vor, dass wir sehr umfangreiche Studien bräuchten, um herauszufinden, ob eine Behandlung für diese Gruppe tatsächlich einen gravierenden Nutzen hat. Solche Studien müssten vielleicht größer sein, als es vernünftigerweise möglich ist. 2 Deshalb konzentrieren sich die Wissenschaftler ersatzweise auf unbedeutendere, aber leichter messbare Effekte, etwa auf die Knochendichte oder den PSA-Wert. Selbst Effekte, die auf den ersten Blick wichtig erscheinen, können in Wirklichkeit zweideutig sein. Das gilt zum Beispiel für Kompressionsfrakturen der Wirbelsäule (die sich bei manchen Patienten bemerkbar machen, bei anderen nicht) und die Entwicklung kleiner Karzinome (die manchmal wachsen, manchmal nicht). Bei diesen zweideutigen, ersatzweise erforschten Effekten mag ein Nutzen der Therapie belegbar sein; aber es gibt keinen eindeutigen Beweis für den Nutzen, auf den es ankommt, nämlich, ob es den Patienten besser geht oder ob sie länger leben. Wir müssen vielmehr glauben, dass der bewiesene messbare Nutzen auf einen gravierenden Nutzen schließen lässt. Aber ein realer Nutzen ist bestenfalls klein und ungewiss, und die ebenfalls vorhandenen Nachteile – negative Folgen der Diagnose und der medizinischen Maßnahmen sowie Unannehmlichkeiten – können durchaus schwerer wiegen (allerdings werden diese Schäden meist nicht einmal zur Kenntnis genommen und erst recht nicht gemessen).
Sobald jemand entschieden hat, dass eine Gruppe mit niedrigem Risiko den gleichen Nutzen haben muss wie eine Gruppe mit hohem Risiko, ist der Weg für mehr Diagnosen bereitet. Und wenn Ärzte dem Aufruf folgen, was sie meist tun, ist auch der Weg für weiteren Schaden bereitet. Da »mehr Diagnosen« immer bedeuten, dass wir auch bei Menschen mit geringeren Anomalien – die seltener zu Symptomen oder zum Tod führen – Diagnosen stellen, produzieren wir oft Überdiagnosen. Und da wir nicht wissen, bei wem eine Überdiagnose vorliegt, neigen wir dazu, alle zu behandeln. Patienten, die Opfer einer Überdiagnose wurden, können von einer Behandlung nicht profitieren; sie können nur Schaden erleiden. Deshalb ist ein Nettoschaden bei »neuen« Patienten, die dank zusätzlicher Diagnosen identifiziert wurden, viel wahrscheinlicher als bei den Patienten, die vor der Diagnoseflut untersucht wurden.
Mehr Diagnosen setzen einen Kreislauf in Gang, der sich selbst verstärkt und Ärzte veranlasst, noch mehr zu diagnostizieren. Mit anderen Worten: Es handelt sich um eine positive Rückkopplung 3 , um einen Zyklus, in dem irgendein Effekt sich selbst reproduziert und dadurch den Eingangseffekt verstärkt. Abbildung 12.3 zeigt, wie mehr Diagnosen zu mehr Diagnosen führen. Dieser Vorgang lässt sich so beschreiben: Jemand macht sich einer exzessiven Extrapolation schuldig und schlägt etwas vor, was zu mehr Diagnosen führt – zum Beispiel eine Ausweitung des Screenings, eine weiter gefasste Definition des Begriffs »abnorm« oder mehr Untersuchungen im Allgemeinen. Sofort fällt den Ärzten auf, dass es mehr Anomalien gibt, als sie bisher gedacht haben. Das allein führt zu mehr Diagnosen. Dann folgen Gesundheitsstatistiken, bezogen auf die Gesamtbevölkerung, die zeigen, wie viele Menschen die Krankheit haben (Prävalenz) oder bei wie vielen die Krankheit neu diagnostiziert wurde (Inzidenz). Auf einmal scheint die Bevölkerung kränker zu sein, als man bisher
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