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Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)

Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)

Titel: Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. Gilbert Welch , Lisa M. Schwartz , Steven Woloshin
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angenommen hat. Jemand benutzt das Wort epidemisch . Um keine Krankheitsfälle zu übersehen, werden mehr Diagnosen empfohlen. Gleichzeitig verlagert sich der Grad der festgestellten Anomalien hin zu den leichteren Formen. Auch das fällt den Ärzten auf. Sie sehen, dass die Krankheit eines typischen »Patienten« milder ist als früher und dass der Krankheitsverlauf meist günstiger ist. Das ist in ihren Augen ein Fortschritt – eine Folge der besseren medizinischen Versorgung –, und darum stellen sie noch mehr Diagnosen. Bald scheint sich die Statistik (zum Beispiel die Überlebenszeit nach fünf Jahren) zu verbessern. Jemand spricht von geretteten Menschenleben . Um noch mehr Leben zu »retten«, werden noch mehr Diagnosen empfohlen.

    Abbildung 12.3 Der sich selbst verstärkende Kreislauf, der Ärzte veranlasst, mehr zu diagnostizieren
Der sich selbst verstärkende Kreislauf
    Mehr Diagnosen, die darauffolgende »Epidemie« und die Behauptung, dass Früherkennung Leben retten kann, führen dazu, dass auch die Bevölkerung mehr Diagnosen einfordert. Sie wurde ja entsprechend präpariert und von Ärzten, Politikern, Medien und vielleicht sogar von ihren Müttern mit Aussagen über den Wert der Untersuchung überschüttet. Die Menschen werden nicht ermutigt, solche Behauptungen kritisch zu prüfen, und niemand hat ihnen beigebracht, wie man beurteilt, ob diese Aussagen solide Wissenschaft oder lediglich Propaganda sind. Daher werden immer mehr Menschen untersucht, und überraschenderweise fördern auch die Untersuchungsergebnisse weitere Untersuchungen. Dies ist der zweite sich selbst verstärkende Kreislauf, dargestellt in Abbildung 12.4. Er hängt nicht davon ab, ob die Ergebnisse normal oder anormal sind. Und er beeinflusst nicht nur die untersuchten Personen, sondern auch diejenigen, die ihre Geschichten hören, zum Beispiel Freunde, Angehörige und Bekannte.

    Abbildung 12.4 Der sich selbst verstärkende Kreislauf, der immer weitere Tests nach sich zieht – egal wie die Testergebnisse ausfallen.

    Um diesen Kreislauf zu verstehen, stellen Sie sich vor, dass Sie keine Symptome haben und dennoch zum Screening gehen. Beginnen wir mit dem häufigsten Untersuchungsergebnis: Ihr Befund ist normal. Um Sie überhaupt zur Untersuchung zu bewegen, hat jemand (ein Arzt, ein Freund, der Autor eines Zeitschriftenartikels oder der Initiator einer Anzeigenkampagne) angedeutet, dass mit Ihnen vielleicht etwas nicht stimmt und dass die Abweichung schwerwiegende Folgen haben könnte, obwohl Sie derzeit keine Symptome haben. Aber die Untersuchungsergebnisse waren ja normal, sodass keine Gefahr besteht. Sie fühlen sich wieder gut und sind vom Screening begeistert, genau so wie andere Menschen in der gleichen Situation. Es ist leicht zu verstehen, wie dieser Prozess abläuft. Angenommen, Sie hören von einer neuen Gehirn-Screening-Kampagne. Solche Kampagnen gibt es. Die Brain Tumor Foundation brachte beispielsweise vor Kurzem ihren mobilen Gehirn-Scanner zum Kapitol, in der Hoffnung, die Gehirne der amerikanischen Politiker auf Tumore untersuchen zu können (natürlich auch, um für das Programm »Road to Early Detection« zu werben). Auf der Website der Stiftung lesen wir:
    Tatsache ist, dass mehr als die Hälfte aller Patienten mit einem Gehirntumor diesen erfolgreich hätten entfernen lassen können, wenn er frühzeitig entdeckt worden wäre, noch ehe Symptome auftraten. Und die einzige Möglichkeit, einen Tumor frühzeitig zu entdecken, ist eine Kernspinuntersuchung. Wenn wir dafür sorgen, dass Gehirntumore früh entdeckt und behandelt werden, können wir vielleicht Tausenden von Menschen das Leben retten.
    Wir sind heute daran gewöhnt, uns routinemäßig auf Brust-, Darm-, Prostatakrebs und andere Krebsarten untersuchen zu lassen – warum also nicht auf Gehirntumore? 4
    Wie würden Sie reagieren, wenn Sie etwas Ähnliches lesen würden?
    Erstens würden Sie vielleicht Angst bekommen – vielleicht haben Sie ja einen Gehirntumor! Noch größere Sorgen machen Sie sich, wenn Sie hören, dass bei jemandem ein Gehirntumor entdeckt wurde, etwa bei einem Freund oder bei einem Prominenten (zum Beispiel bei dem verstorbenen Senator Kennedy, bei dem diese Diagnose einige Monate, bevor der mobile Scanner in Washington ankam, gestellt wurde). Also lassen Sie sich scannen und werden ein wenig nervös, als Ihr Kopf ins Rohr geschoben wird. Ihre Besorgnis wächst, während Sie auf das Ergebnis warten. Auf einmal kommt es Ihnen

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