Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)
wahrscheinlicher vor, ein tödliches Karzinom zu haben. Und jetzt stellen Sie sich vor, man teilt Ihnen mit, dass Sie keinen Gehirntumor haben. Sie sind erleichtert. Sie wissen, dass Sie gesund sind. Die Untersuchung war richtig, weil sie diese Tatsache nochmals bestätigt hat. Deshalb ist es vernünftig, sie eines Tages zu wiederholen, damit Sie sicher sein können, dass Sie gesund sind. Außerdem wollen Sie das Screening auch Ihren Freunden empfehlen.
Aber was ist wirklich geschehen? Im Grunde hat Ihnen das System, das für die Früherkennung wirbt, eine gewisse Angst eingeflößt und sie dann wieder beseitigt. Manche Leute haben darauf hingewiesen, dass die Beruhigung im Wesentlichen eine Illusion ist; denn eine einzige Untersuchung mit negativem Befund hat kaum einen Einfluss auf Ihr Risiko, an Krebs zu sterben. 5 Trotzdem verstärkt die beruhigende Wirkung des Untersuchungsergebnisses »normal« die Bereitschaft, sich später erneut untersuchen zu lassen. Dafür gibt es noch einen zweiten Grund: Wenn Ihre Angst vor einer Krankheit erst einmal geweckt wurde, wollen Sie sich auch in Zukunft die Chance nicht entgehen lassen, diese Angst loszuwerden. Wenn Sie nicht zum Screening gehen und krank werden, halten Sie das sogar für Ihren eigenen Fehler. 6 Diese »vorweggenommene Reue« fördert weitere Untersuchungen ebenfalls.
Nehmen wir nun an, das Untersuchungsergebnis ist falsch-positiv; das heißt, Sie werden zunächst als krank definiert, die Diagnose erweist sich jedoch später als falsch. Solche falsch-positiven Diagnosen kommen am häufigsten bei der Krebsfrüherkennung vor (sie machen etwa 5 bis 15 Prozent aller Diagnosen aus). 7 In diesem Fall bedeutet der falsche Alarm, dass Ihr Gehirn-Scan eine Anomalie aufweist – eine kleine Geschwulst könnte Krebs sein. Das ist ziemlich beängstigend. Damit die Ärzte genau feststellen können, worum es sich bei dieser Geschwulst handelt, ist eine Gehirnbiopsie erforderlich. Ein Chirurg bohrt ein Loch durch den Schädel und entnimmt mit einer sehr dünnen Nadel eine Gewebeprobe. Alles geht gut, und es stellt sich heraus, dass es sich nicht um Krebs handelt. Ihre Erleichterung ist groß, und Sie sind unendlich dankbar dafür, noch einmal davongekommen zu sein. (Wie ein Freund von mir, ein Onkologe, scherzhaft zu sagen pflegte, könnten wir die gesamte Bevölkerung glücklich machen, wenn wir allen mitteilen würden, ihr Untersuchungsbefund deute auf Krebs hin, um eine Woche später einzuräumen, dass wir uns geirrt hätten.)
Nun sollte man meinen, ein falscher Alarm schrecke vor weiteren Untersuchungen ab. Doch interessanterweise ärgern sich nur wenige Menschen über die vorübergehende Angst. In einer landesweiten Umfrage, die meine Koautoren und ich durchführten, bezeichneten mehr als 40 Prozent der Amerikaner, die nach einer Krebsvorsorgeuntersuchung einen falschen Alarm erlebt hatten, diese Erfahrung als »sehr beängstigend« oder als »die schlimmste Zeit meines Lebens«. Dennoch sagten fast alle im Rückblick, sie seien »froh« darüber, dass man sie untersucht habe. 8 Die enorme Erleichterung nach einem falschen Alarm und die verbleibende Angst um die Gesundheit, die manche Menschen empfinden, 9 sind ein Ansporn für weitere Untersuchungen.
Aber was ist, wenn es sich nicht um einen Fehlalarm handelt? Wenn Sie erfahren, dass Sie wirklich krank sind, in diesem Fall, dass Sie einen Gehirntumor haben? Selbst dann bekommen Sie vielleicht zu hören, es gebe auch gute Nachrichten. Auf der Website der Brain Tumor Foundation erfahren wir: »Es ist eine Tatsache, dass mehr als die Hälfte aller Patienten mit einem Gehirntumor diesen erfolgreich hätten entfernen lassen können, wenn er frühzeitig entdeckt worden wäre.« (Anmerkung: Für diese Behauptung gibt es keine Belege, und ich habe auch keinen gefunden – allerdings ist die Aussage völlig plausibel, wenn bei der Hälfte der Patienten eine Überdiagnose vorlag.) Also lassen Sie sich operieren. Wenn alles gut geht, nehmen Sie an, dass Sie der Früherkennung Ihr Leben verdanken. Alle nehmen das an. Dies ist das stärkste positive Feedback für weitere Untersuchungen. Natürlich gehen die Ärzte davon aus, dass der Tumor Sie umgebracht hätte. In Wahrheit weiß niemand, ob es sich um einen tödlichen Krebs handelte oder um eine Überdiagnose.
Besonders ironisch ist, dass ein Vorsorgeprogramm umso beliebter wird, je mehr Überdiagnosen es produziert. 10 Mehr Überdiagnosen machen es zunehmend
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