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Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)

Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)

Titel: Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. Gilbert Welch , Lisa M. Schwartz , Steven Woloshin
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Warum hörte die Radiologin nicht auf? Vielleicht gehörte ihr der CT-Scanner, und sie wollte Geld verdienen; aber auch das bezweifle ich. Ich habe vielmehr den Verdacht, dass beide Ärzte unbedingt herausfinden wollten, was mit Michael los war. Sie glaubten, das sei für ihn das Beste. Aber sie dachten nicht daran, dass das Streben nach diagnostischer Gewissheit Nachteile haben kann. Sie dachten nicht an das Problem der Überdiagnose.

Kapitel 12
Behalten Sie den Überblick
    Jetzt haben Sie einen Eindruck davon, wie umfangreich das Problem der Überdiagnose ist. Sie wissen, dass es viele Erscheinungsformen hat: von numerischen Anomalien (zum Beispiel beim Blutdruck und beim Cholesterinspiegel) über strukturelle Anomalien (im Knie, aber auch bei Ihrem Baby) bis zu der Anomalie, die am meisten gefürchtet wird: Krebs. Sie wissen, dass es viele verschiedene Gründe für dieses Problem gibt: Die intensive Suche nach Anomalien, die Ausweitung der Screenings, wir vergrößern die Zahl der Kranken, indem wir den Grenzwert für Anomalien verändern, und wir erhöhen die Wahrscheinlichkeit, zufällig Anomalien zu entdecken, indem wir generell mehr diagnostizieren. Und Sie wissen, dass der Wunsch, Geld zu verdienen, und die Überzeugung, Gutes zu tun, zu einer Medizinkultur geführt haben, die sich nicht leicht von der Idee abbringen lässt, dass frühe Diagnosen stets besser sind. Ich möchte nun zum großen Ganzen zurückkehren, damit Sie besser beurteilen können, ob Früherkennung sich wirklich lohnt.
Morgenvisite
    Die meisten Ärzte beginnen ihren Tag mit einem Rundgang. Sie besuchen ihre Patienten im Krankenhaus und prüfen, ob sie Fortschritte gemacht haben. Ich glaube, ein Rückblick auf die Erfahrungen und Fortschritte der Patienten, denen Sie in diesem Buch begegnet sind, bringt uns einem Gesamtbild des Problems Überdiagnose näher. Nehmen Sie sich also ein paar Minuten Zeit, um Tabelle 12.1 auf Seite 166 zu studieren, die jeden einzelnen Fall kurz zusammenfasst.
    Der Wunsch, Menschen vor Krankheiten im fortgeschrittenen Stadium zu bewahren, ist ein ehrbares Motiv der Frühdiagnostik. In einer vollkommenen Welt hätten Diagnosen nur Vorteile: weniger Symptome, weniger Krankenhausaufenthalte und ein längeres, gesünderes Leben. Doch in der realen Welt haben Diagnosen auch Nachteile. Es gibt viele Geschichten über Menschen, deren Leben dank einer Diagnose gerettet wurde; aber Geschichten über Menschen, denen eine Diagnose schadete, sind extrem selten. Trotzdem erleiden viele Menschen einen Schaden. Manche dieser Schäden sind gering, einige jedoch ziemlich ernst. Darum habe ich Ihnen die Geschichten dieser Patienten erzählt.
    Wir können die negativen Folgen einer Diagnose in drei Gruppen einteilen. Erstens bekommen alle Patienten die Auswirkungen der Diagnose selbst zu spüren. Eine Diagnose kann dazu führen, dass ein Mensch sich verwundbarer fühlt – er glaubt, etwas stimme nicht mit ihm und er habe Grund zur Sorge. Fragen Sie Lara, Ms. Angier oder Michael. Diese durch Diagnosen verursachte Verwundbarkeit untergräbt das Gefühl des Wohlbefindens und die Widerstandskraft, die in vielerlei Hinsicht zur Definition der Gesundheit zählen. Das Streben nach mehr und früheren Diagnosen kann also ironischerweise in Konflikt mit unserem Ziel geraten. Dieses Ziel ist eine gesündere Gesellschaft. Und wenn Ihnen die seelischen Nöte der Patienten gleichgültig sind oder wenn Sie glauben, sie seien ein geringer Preis für die Früherkennung, sollten Sie die praktischen Folgen für unser Gesundheitssystem bedenken: Nach einer Diagnose ist es für die Betroffenen oft schwerer und teurer, eine Krankenversicherung abzuschließen. Schlimmer noch, manche verlieren dadurch sogar ihren Versicherungsschutz.
    Zweitens leiden die meisten Patienten unter den Maßnahmen, die der Diagnose folgen, sei es unter der Behandlung, sei es unter weiteren diagnostischen Untersuchungen. Damit ist nämlich eine Menge Ärger verbunden: mehr Telefongespräche und Arzttermine, die Feinabstimmung der medikamentösen Behandlung, mehr Untersuchungen, mehr Überwachung, mehr Rezepte und so weiter. Lara, Mr. Baker und Michael mussten sich mit vielen Unannehmlichkeiten dieser Art herumschlagen. Ich glaube, die meisten Leute wären sich darin einig, dass diese Patienten geschädigt wurden.
    Die schwersten Folgeschäden fallen in die dritte Kategorie. Manche Patienten leiden unter den Nebenwirkungen der Behandlung. Nebenwirkungen sind vorübergehend

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