Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)
Maßnahmen, die sie vor möglichen Beschwerden in der Zukunft schützen sollen. Ihr Standpunkt lautet: »Man soll nicht reparieren, was nicht kaputt ist.« Ich führe ihre Einstellung darauf zurück, dass viele Bewohner des ländlichen Vermont einen starken Hang zur Unabhängigkeit haben. Sie werden zur Selbstständigkeit erzogen (und bedauern möglicherweise übertriebene mechanische Eingriffe in ihre Traktoren).
Vor einigen Wintern stand Mr. Baileys Name auf einer Liste, die ich von der Klinikverwaltung bekam. Es ging um Patienten, deren Blutdruck das Ministerium für bedenklich hielt. Mr. Baileys diastolischer Blutdruck lag im Bereich zwischen 70 und 90, war also in Ordnung. Sein systolischer Blutdruck war bei seinen letzten beiden Besuchen jedoch hoch gewesen – über 160. Offen gestanden kann ich Ihnen nicht sagen, ob ich das wusste, bevor ich die Liste erhielt. Als ich studierte, wurde allein auf der Basis des diastolischen Blutdrucks über eine Behandlung entschieden. Heute wird zunehmend anerkannt, dass ein erhöhter systolischer Blutdruck bei älteren Menschen wahrscheinlich gefährlicher ist als ein erhöhter diastolischer Blutdruck. Wahrscheinlich hatte ich den hohen systolischen Wert zwar gesehen, aber nicht reagiert. Jetzt war er offenkundig jemand anderem aufgefallen.
Ich würde Ihnen gerne sagen können, dass dieser Fall meine praktische Arbeit nicht beeinflusst hat. Aber das stimmt nicht. Kein Arzt will sich nachsagen lassen, dass er berufliche Standards missachtet. Ich hatte gemischte Gefühle, was eine Behandlung dieses leichten systolischen Bluthochdrucks betraf – es gab Argumente dafür und dagegen. Da Mr. Baileys Name jedoch auf der Liste stand, entschied ich mich für eine Behandlung.
Also verordnete ich ihm zunächst eine 25-Milligramm-Tablette Hydrochlorothiazid jeden Morgen. Dieses Medikament wirkt harntreibend und senkt den Wassergehalt des Körpers (das ist einer der Gründe dafür, dass es auch den Blutdruck senkt). Mr. Bailey verspürte keine unangenehmen Nebenwirkungen. Sein Blutdruck sank und war den ganzen Frühling über normal. Dann hatten wir eine Zeit lang heißes, feuchtes Wetter. Davon lässt Mr. Bailey sich nicht aufhalten. Eines Tages reparierte er im Freien eine Mauer, hob schwere Steine und triefte vor Schweiß. Und weil er nicht dauernd eine Wasserflasche bei sich hatte, trocknete sein Körper aus. Sein Blutdruck wurde zu niedrig, und er brach bewusstlos zusammen.
Als er aufwachte, rief er mich an (ich bin telefonisch leichter zu erreichen als er). Er hatte sich beim Kollaps nicht verletzt; aber das hätte passieren können. Und was wäre geschehen, wenn er gerade seine Kettensäge benutzt hätte? Ich riet ihm, die Tabletten nicht mehr zu nehmen, mehr Wasser zu trinken und zu mir in die Klinik zu kommen.
Als ich ihn ein paar Tage später traf, schien es ihm gut zu gehen. Ich erklärte ihm, was ich vermutete: Er hatte stark geschwitzt, zu wenig Wasser getrunken und ein blutdrucksenkendes Medikament eingenommen, und diese Faktoren zusammen hatten seine Ohnmacht verursacht. Er wollte wissen, ob er das Medikament wirklich einnehmen müsse. Das war eine völlig berechtigte Frage. Als Forscher hielt ich es für angebracht, ihm einige Zahlen vorzulegen, damit er das Für und Wider genauer abwägen konnte.
Während der diastolische Blutdruck seit den sechziger Jahren behandelt wird, ist die Therapie des systolischen Blutdrucks sehr viel jünger. Die randomisierte Studie, die unsere Praxis veränderte, wurde 1991 veröffentlicht. 13 Die Teilnehmer waren ältere Patienten (wie Mr. Bailey), bei denen der diastolische Blutdruck normal war, der systolische Blutdruck jedoch über 160 lag. Diesen Zustand nennt man isolierten systolischen Bluthochdruck. Die Studie war groß – fast fünftausend Patienten nahmen teil. Und die Nachbeobachtung dauerte lange – beinahe fünf Jahre. Allen, die mit der klinischen Forschung vertraut sind, geben diese Details einen Hinweis auf die Größenordnung der Ergebnisse, mit denen die Wissenschaftler rechneten. Erinnern Sie sich an die randomisierte VA-Studie? Das war eine kleine Studie mit einer kurzen Nachbeobachtung, die aber eine enorme Wirkung belegte. Wenn die Wirkung sehr groß ist, kann sie bei einer kleinen Zahl von Menschen innerhalb einer kurzen Zeitspanne festgestellt werden. Wenn eine Studie groß und die Nachbeobachtungszeit lang ist, so ist dies ein Hinweis darauf, dass die Forscher mit einer geringen Wirkung rechnen.
In der
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