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Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)

Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)

Titel: Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. Gilbert Welch , Lisa M. Schwartz , Steven Woloshin
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er Grippe oder ein Magenvirus. Ich weiß es nicht.
    Mr. Roberts war über einen Monat im Krankenhaus. Als ich ihn in der Ambulanz traf, trug er einen Halofixateur. Das ist ein Metallring, der den Hals umschließt, ganz ähnlich wie eine Hutkrempe, nur dass der Halo nicht auf dem Kopf sitzt, sondern mit Nadeln am Schädel befestigt wird. Zwei mit ihm verschraubte Metallstäbe reichen bis zu den Schultern und sind mit einer eng sitzenden Kunststoffjacke verbunden. Dieses Korsett stellt den Hals ruhig und streckt ihn, so dass der Bruch heilen kann. Ich fühlte mich schrecklich. Und selbstverständlich setzte ich die Glibenclamid-Therapie nicht fort.
    Mr. Roberts ist jetzt neunzig und immer noch mein Patient. Seit dem Unfall wird er nicht mehr wegen Diabetes behandelt, und er leidet auch nicht an Komplikationen. Ich glaube, er war das Opfer einer Überdiagnose. Aber er hatte Glück und erlitt keine dauerhaften Schäden. Von den Folgen der unnötigen Behandlung hat er sich vollständig erholt. Aber ich bin nicht sicher, ob ich mich davon erholt habe.
Wer hat Diabetes?
    Diabetes kann eine sehr schwere Krankheit sein. Manche Patienten – meist Kinder – werden das allererste Mal medizinisch behandelt, weil sie das Bewusstsein verloren haben. Sie befinden sich in einem diabetischen Koma. Ihr Blutzuckerspiegel kann um das Zehnfache erhöht sein; ihr Kaliumspeicher ist extrem klein, und ihre Körperflüssigkeiten sind gefährlich sauer (wir nennen das metabolische Azidose). Ohne Behandlung sterben sie.
    Die Behandlung eines Patienten im diabetischen Koma ist eine der dankbarsten Erfahrungen in der Medizin. Wenn der Patient eingeliefert wird, ist er dem Tod nahe, und etwa zwei Tage später fühlt er sich im Allgemeinen wieder wohl. Alles, was er braucht, ist viel Flüssigkeit, intravenös verabreicht, etwas Kalium und das Hormon, das ihm fehlt – Insulin. Insulin ist das Hormon, das den Zucker aus dem Blut in die Zellen befördert. Wird es zusammen mit der Flüssigkeit und dem Kalium verabreicht, normalisieren sich der Blutzucker und das Säure-Basen-Gleichgewicht. Wichtiger noch: Der Patient wacht auf. Das muss man gesehen haben.
    Aber was ich eben beschrieben habe, ist im Grunde die seltenere Form des Diabetes, nämlich der Typ 1. Patienten mit Typ 2, der viel häufigeren Form, sind meist erwachsen und haben reichlich Insulin. Ihr Problem ist, dass das Insulin nicht wirkt, weil der Körper dagegen resistent geworden ist. Diese Patienten haben oft Übergewicht (daher ist Gewichtsabnahme die beste Therapie). Zwar führt dieser Diabetestyp in der Regel nicht zu einem diabetischen Koma, aber er kann dennoch eine sehr schwere Krankheit sein. Jede Form von Diabetes kann schwere Folgen haben, darunter Erblindung, Nierenversagen, Herzkrankheiten, schlechte Wundheilung und Entzündungen der Beine, die eine Amputation erforderlich machen. Aber Diabetes vom Typ 2 kann auch völlig unsymptomatisch sein. Wie beim Bluthochdruck gibt es also auch beim Diabetes einen Grad der Anomalie. Bei manchen Diabetikern treten die erwähnten Komplikationen auf, bei anderen nicht. Wir wissen zwar nie genau, wer diese anderen sind, aber sie wurden Opfer einer Überdiagnose.
    Wie entscheiden wir also, wer Diabetiker ist? Als ich studierte, lautete unsere numerische Regel: Wer einen Nüchternblutzucker über 140 hat, ist Diabetiker. Doch im Jahr 1997 definierte ein Expertengremium der amerikanischen Diabetesgesellschaft (das Expert Committee on the Diagnosis and Classification of Diabetes Mellitus) die Krankheit neu. 1 Jetzt haben Sie Diabetes, wenn Sie einen Nüchternblutzuckerspiegel über 126 haben (derselbe Grenzwert gilt für Deutschland). Vorher galt jeder als normal, dessen Blutzuckerspiegel zwischen 126 und 140 lag; heute ist er Diabetiker. Diese kleine Veränderung machte mehr als 1,6 Millionen Amerikaner zu Patienten. 2
    Ist das ein Problem? Vielleicht. Da wir die Regeln geändert haben, behandeln wir jetzt mehr Menschen wegen Diabetes. Das kann bedeuten, dass wir das Risiko für diabetische Komplikationen bei einigen dieser neuen Patienten verringert haben. Weil diese Patienten aber an einem milderen Diabetes leiden (relativ niedriger Blutzucker zwischen 126 und 140), ist dieses Risiko bei ihnen ohnehin geringer.
    Deshalb haben Menschen mit leicht erhöhtem Blutzuckerwert ähnlich wie Menschen mit relativ leichtem Bluthochdruck von einer Behandlung weniger zu erwarten.
    Abbildung 2.1 zeigt, wie sich die Neudefinition des Diabetes – der

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