Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)
Sie Symptome haben. Diabetes wird mithilfe einer Zahl für den Blutzuckerspiegel definiert; Hyperlipidämie wird anhand einer Zahl für das Cholesterin definiert; und Osteoporose wird mithilfe einer Zahl für die Knochendichte (Z-Wert genannt) definiert. Natürlich versuchen die Ärzte in allen diesen Fällen, Symptomen vorzubeugen. Wir wollen eine frühe Diagnose stellen, um negative Folgen zu verhindern, zum Beispiel die Amputation eines Beines oder Erblindung durch Diabetes, Herzinfarkte und Schlaganfälle bei zu hohem Cholesterinspiegel oder Handgelenks- und Hüftbrüche bei Osteoporose. Doch immer, wenn wir Diagnosen stellen, ehe es zu Symptomen kommt, droht eine Überdiagnose. Manche Menschen, bei denen Diabetes, ein hoher Cholesterinspiegel oder Osteoporose diagnostiziert wird, werden nie Symptome bekommen und nie allein wegen ihrer Veranlagung sterben. Das gilt besonders für jene, bei denen die Anomalien gering sind.
Die numerischen Regeln, mit denen Krankheiten definiert werden, sind durchaus wichtig. Sie bestehen meist aus einer einzigen Zahl. Wenn Sie diesen Wert nicht erreichen, gelten Sie als gesund; wenn Sie ihn erreichen, gelten Sie als krank. Diese Zahlen – Schwellen- oder Grenzwerte genannt – bestimmen, wer krank ist und wer gesund ist, wer behandelt wird und wer nicht. Und sie bestimmen, wie häufig Überdiagnosen vorkommen.
Grenzwerte werden von medizinischen Expertengremien festgelegt. Ich wollte, ich könnte sagen, dass deren Entscheidungen allein auf wissenschaftlichen Fakten beruhen. Aber sie sind willkürlicher: Sie enthalten Werturteile und berücksichtigen sogar finanzielle Interessen. Die Fachleute, die über Grenzwerte entscheiden, haben bestimmte Vorstellungen davon, was wichtig ist. Und weil diese Ärzte sich intensiv mit den Krankheiten beschäftigen, auf die sie spezialisiert sind, glaube ich, dass sie bisweilen das große Ganze aus den Augen verlieren. Sie wollen alles tun, was sie können, um die negativen Folgen einer Krankheit zu verhindern. Am Wichtigsten ist es ihnen, niemanden zu übersehen, der möglicherweise von einer Diagnose und Behandlung profitieren könnte. Darum neigen sie dazu, Grenzwerte so zu setzen, dass viele Menschen als abnorm gelten. Und sie neigen dazu, das Hauptproblem dieser Strategie entweder zu ignorieren oder herunterzuspielen: die Behandlung von Menschen, die nichts davon haben.
In den letzten paar Jahrzehnten wurden viele Grenzwerte so geändert, dass die Zahl der Menschen, die als krank gelten, drastisch gestiegen ist. Das bedeutet, dass mehr Diagnosen gestellt werden. Selbst wenn dies in bester Absicht geschieht – negative Ereignisse häufiger zu verhindern –, kann es unerwünschte Folgen haben: mehr Überdiagnosen.
Gute Absichten mit bösen Folgen
Dies ist keine fröhliche Geschichte. Mr. Roberts war ein vierundsiebzig Jahre alter Mann, dessen größtes gesundheitliches Problem Colitis ulcerosa war, eine Entzündung des Dickdarms. Zu den Symptomen dieser Krankheit gehören starke Bauchschmerzen und Durchfall. Außerdem ist das Darmkrebsrisiko erhöht. Weil seine Krankheit sehr ernst war, wurde ein Teil seines Dickdarms operativ entfernt. Danach hatte er zwar häufig Stuhlgang, aber er kam damit ganz gut zurecht.
Eines Tages wurde bei einem Routinetest ein erhöhter Blutzuckerspiegel gemessen. Er war nicht sehr hoch, aber der Befund zog weitere Tests nach sich. Diese bestätigten die Diagnose: Diabetes. Er hatte Diabetes vom Typ 2, der meist bei älteren Erwachsenen auftritt (während der Typ 1 gewöhnlich schon in der Kindheit ausbricht). Er hatte zwar keine Diabetessymptome, aber seit einigen Jahrzehnten bekämpften die Ärzte Diabetes bereits im Frühstadium viel aggressiver; darum verordnete ihm der Hausarzt Glibenclamid, ein Medikament, das den Blutdruck senkt. Er sprach gut auf das Medikament an.
Sechs Monate später verlor er während einer Fahrt mitten auf der Autobahn das Bewusstsein, sein Wagen kam von der Straße ab und überschlug sich. Er brach sich den sechsten und siebten Halswirbel. Die Sanitäter ermittelten noch am Unfallort seinen Blutzuckerspiegel – er war sehr niedrig. Das Medikament war zu wirksam gewesen. Ich möchte nicht der Arzt sein, der es ihm verschrieben hat.
Aber ich war dieser Arzt. Ich weiß nicht genau, was passiert ist. Ich hatte ihm die übliche Anfangsdosis verordnet, und er hatte sie fast ein halbes Jahr lang gut vertragen. Vielleicht hatte er an diesem Tag nicht normal gegessen; vielleicht hatte
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