Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)
Vorsorgeuntersuchung in den USA eingeführt wurde – sogar gesunken. Auch das ist eine gute Nachricht, vor allem weil immer weniger daran sterben. Aber die beiden Bedenken gelten auch hier.
Ich habe den Verdacht, dass die Vorsorgeuntersuchung nur ein Teil der Geschichte ist. Die Zahl der neuen Darmkrebsfälle fing an zu sinken, sobald wir mit den Vorsorgeuntersuchungen begannen. Doch anstatt mehr Karzinome zu finden, fanden wir weniger. Läge dies an der Vorsorgeuntersuchung, müssten mehr (präkanzeröse) Polypen entdeckt und entfernt worden sein. Das ist jedoch nicht der Fall, weil die Entfernung dieser Polypen erst in den neunziger Jahren üblich wurde. Zwischen der Entfernung der Polypen und den rückläufigen Krebsraten müsste es also einige Jahre Verzögerung geben. Tatsächlich aber setzte der beobachtete Rückgang der Darmkrebsfälle etwa ein Jahrzehnt früher ein, als man erwarten würde, wenn die Vorsorgeuntersuchung der Grund dafür wäre.
Es muss also etwas noch Erfreulicheres im Gange sein: Die Zahl der Darmkrebsfälle geht zurück. Etwas in unserer Umwelt (zum Beispiel die Ernährung) ist besser geworden. Das ist wunderbar.
Zweitens: Die Vorsorgeuntersuchung geht zwar nicht mit Überdiagnosen für invasiven Darmkrebs einher; aber es wäre falsch zu behaupten, dass überhaupt keine Überdiagnosen (oder Überbehandlungen) vorkommen. Die Überdiagnosen, die auf Darmkrebsvorsorgeuntersuchungen zurückzuführen sind, betreffen Polypen. Etwa einer von drei Erwachsenen hat Polypen. Darmkrebs ist viel seltener. Die Vorsorgeuntersuchung führt also dazu, dass bei enorm vielen Menschen Polypen entfernt werden. Und wer einmal Polypen hatte, wird häufiger untersucht. Die Folge ist, dass noch mehr Polypen entfernt werden, so viele, dass die allermeisten nie kanzerös geworden wären. Stattdessen können wir hier von überdiagnostizierter Präkanzerose sprechen.
Krebsüberdiagnosen sind eindeutig nicht auf Prostatakrebs beschränkt. Sie sind ein allgemeines Problem der Krebsvorsorgeuntersuchungen. Wenn wir immer intensiver nach Krebsvorstufen suchen, hat dies eine unerfreuliche Nebenwirkung: Wir finden mehr »Krebsfälle«, die ohne Vorsorgeuntersuchungen unauffällig geblieben wären. Das wiederum hat zur Folge, dass Patienten viel häufiger wegen Krebs behandelt werden. Der Urologe Willet Whitmore beschrieb dieses Dilemma sehr eloquent: »Ist eine Behandlung notwendig, wenn sie möglich ist? Ist eine Behandlung möglich, wenn sie notwendig ist?« 18 Man könnte es auch so formulieren: Müssen wir Menschen behandeln, die einen Krebs haben, den wir frühzeitig entdecken können? Können wir Menschen mit den aggressivsten Krebsformen behandeln?
Wir wissen heute, dass manche Menschen kleine, gutartige Karzinome in sich tragen, die nie symptomatisch oder letal enden werden. Je genauer wir hinschauen, desto häufiger finden wir solche Karzinome.
Die Öffentlichkeit sollte sich dessen bewusst sein, dass die immer intensivere Suche nach Krebs nicht die sicherste Lösung darstellt. Und die Ärzte, die weniger aggressive Vorsorgeuntersuchungen empfehlen (seltener, späterer Beginn oder Ende in einem bestimmten Alter) oder weniger Biopsien vornehmen, sind vielleicht keine schlechten Ärzte; sie könnten sogar ziemlich gute Ärzte sein. Die Öffentlichkeit sollte Untersuchungsverfahren fordern (und daran teilnehmen), bei denen nicht so gründlich nach Krebs gesucht und nicht so oft Krebs entdeckt wird, die aber den Krebs aufspüren, der gefährlich ist.
Kapitel 6
Wir suchen intensiver nach Brustkrebs
Ich dachte, ich sollte den Brustkrebs zum Schluss besprechen. Er ist zweifellos der Krebstyp, von dem die Amerikaner am meisten hören, weil er in den Nachrichten am häufigsten auftaucht und weil die Farbe Rosa (die Farbe der amerikanischen Kampagne für Brustkrebsvorsorge) allgegenwärtig ist. Warum geben wir uns solche Mühe, die Menschen auf Brustkrebs aufmerksam zu machen? Wegen der Mammografie.
Bevor ich fortfahre, möchte ich den Unterschied zwischen der diagnostischen Mammografie und dem Mammografie-Screening (der Mammografie als Vorsorgeuntersuchung) betonen. Mit einer diagnostischen Mammografie untersuchen wir eine Frau, die einen neuen Brustknoten hat. In diesem Fall hilft uns die Mammografie herauszufinden, was das für ein Knoten ist. Einer solchen Mammografie unterzog sich meine Frau vor etwa zehn Jahren. Sie hatte einen neuen Knoten in der Brust ertastet. Der Befund lautete: Tumor der Klasse fünf. Das
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