Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)
zu unterziehen. Man versicherte den Frauen, die Strahlenbelastung sei inzwischen erheblich geringer als früher. Zudem hatte das NCI die HIP-Studie noch einmal geprüft und war zu dem Schluss gekommen, dass Frauen in den Vierzigern doch von der Mammografie profitierten. Aber die Gemüter beruhigten sich nicht. Im Jahr 1992 wurden die Ergebnisse einer großen randomisierten Studie in Kanada veröffentlicht. 2 Das Konzept ähnelte dem der HIP-Studie, was nicht verwunderlich war, da der Leiter dieser Studie auch an der HIP-Studie mitgewirkt hatte. Die Interventionsgruppe erhielt eine Mammografie und eine klinische Untersuchung, die Kontrollgruppe wurde nicht untersucht. Anders als die HIP-Studie konzentrierte sich die kanadische Studie auf Frauen im Alter von vierzig bis neunundvierzig. Das Ergebnis war eine Überraschung: Die Mammografie verringerte die Brustkrebssterblichkeit nicht.
Ende 1992 waren neun der zehn randomisierten Studien zur Mammografie beendet und in der medizinischen Literatur veröffentlicht. Keine dieser Studien (einschließlich der kanadischen) konnte einen Rückgang der Sterblichkeit bei jüngeren Frauen feststellen. Erneut zogen einige Forscher daraus den Schluss, dass eine Mammografie bei Frauen unter fünfzig nutzlos sei. Andere waren davon nicht überzeugt und wiesen darauf hin, dass man einen Nutzen wegen der geringen Zahl von jüngeren Teilnehmerinnen nicht ausschließen könne. Im Februar 1993 bekräftigte die Amerikanische Krebsgesellschaft ihre Empfehlung, auch jüngere Frauen in das Mammografieprogramm einzubeziehen.
Drei Wochen später veranstaltete das Nationale Krebsinstitut ein internationales Arbeitstreffen, um aus den Studien ein Fazit zu ziehen. 3 Man wollte das vorhandene Wissen bewerten und Probleme benennen, die genauer untersucht werden mussten. Es ging nicht darum, Empfehlungen zur Mammografie auszusprechen. Die Wissenschaftler kamen zu dem Ergebnis, dass die Studien einen Nutzen für Frauen ab fünfzig belegten, nicht aber bei Frauen in den Vierzigern. Außerdem bestätigten sie, dass die Mammografie auch Nachteile hatte. Zwar erwähnten sie nur die falsch-positiven Befunde und die unnötigen Biopsien, aber einer meiner Kollegen, der damals anwesend war, räumte ein, dass auch das Problem der Überdiagnosen diskutiert worden sei.
Im Jahr 1997 wurde die Kontroverse hitziger. Der Direktor des NCI wollte die Ungewissheit beenden und berief ein Gremium von dreizehn unparteiischen medizinischen Experten und Verbraucherschützern ein, um alle Daten zu prüfen und den Amerikanerinnen einvernehmliche Empfehlungen zu geben. 4 Das war eine bewährte Methode, schwierige Probleme zu lösen; sie wurde von allen National Institutes of Health (Behörden des Gesundheits- und Sozialministeriums der USA) angewandt, auch vom NCI. In der Vergangenheit hatte es mehr als hundert solche Konsensgremien gegeben. Dieses Gremium entschied, dass die Daten, die für eine Mammografie bei Frauen zwischen vierzig und fünfzig Jahren sprachen, dürftig waren. Es war nicht klar, ob die Mammografie Leben rettete. Und wenn sie Frauen rettete, dann waren es wenige: Nicht einmal eine von tausend Frauen, die sich im Laufe von zehn Jahren einer Mammografie unterzogen, verdankte ihr Leben dieser Maßnahme. Was die Nachteile anbelangte, drückte sich das Gremium deutlicher aus: Bei rund einem Drittel der Frauen kam es zu mindestens einem falsch-positiven Befund, und eine erhebliche Zahl von Frauen erhielt die Diagnose »Krebs« (und wurde wegen Krebs behandelt), obwohl eine Überdiagnose vorlag. Bei diesen Frauen war der Nutzen der Mammografie völlig unklar. Deshalb lehnte das Gremium es ab, für Frauen in den Vierzigern eine Empfehlung auszusprechen, weder für noch gegen die Mammografie. Stattdessen rieten die Experten jeder Frau, ihre eigene Entscheidung zu treffen.
Dieser Rat löste einen Sturm der Entrüstung aus. Ein Befürworter der Mammografie behauptete, das Gremium verurteile amerikanische Frauen zum Tode. Ein anderer nannte den Bericht fehlerhaft und wies (mit Recht) darauf hin, dass sich im Alter von fünfzig Jahren nichts Magisches ereigne. Der Direktor des NCI erklärte, er sei »erschrocken« über den Bericht seines Gremiums, was viele zu der Frage veranlasste, warum er es überhaupt einberufen hatte, wenn er die richtige Antwort bereits kannte. Bernadine Healy, die ehemalige Leiterin der National Institutes of Health und prominente Befürworterin der Vorsorgeuntersuchungen für Frauen, sagte zu
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