Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)
bekam er eine Pankreatitis, eine seltene, aber schwere postoperative Komplikation. Man verlegte ihn auf die Intensivstation. Nach anderthalb Monaten im Krankenhaus wurde er nach Hause entlassen, um vollständig zu genesen. Einen Monat später folgte die nächste Operation, weil sich um das Pankreas herum eine Zyste gebildet hatte – eine Komplikation der Pankreatitis. Diesmal blieb er einen Monat im Krankenhaus. 14 Er hatte nicht einmal Lungenkrebs – die Biopsien waren negativ.
Es war nur eine Routineuntersuchung.
Aber das ist nicht immer der Weg zur Gesundheit.
Häufige Krebsarten mit wenigen oder keinen Überdiagnosen
Beim Gebärmutterhals- und bei Darmkrebs scheinen Überdiagnosen kein großes Problem zu sein. Das soll aber nicht heißen, dass Überdiagnosen nicht vorkommen. Präkanzeröse Anomalien werden durchaus überdiagnostiziert. Deshalb sind diese Krebsarten ein Sonderfall: Wir konzentrieren uns darauf, präkanzeröse Anomalien zu entfernen, nicht darauf, Krebs möglichst früh zu entdecken.
Gebärmutterhalskrebs
Gebärmutterhalskrebs (das Zervixkarzinom) war der erste Krebstyp, den man mit umfangreichen Vorsorgeuntersuchungen bekämpfen wollte: Der PAP-Abstrich wurde in den USA in den vierziger Jahren eingeführt. Als der Test fast allen Frauen zur Verfügung stand, stieg die Zahl der Diagnosen aber nicht an, sie fiel sogar drastisch ab (auf ein Fünftel, verglichen mit 1950). 15 Das ist die gute Nachricht.
Es kommt noch besser: Auch die Zahl der Frauen, die an Gebärmutterhalskrebs starben, ist seither stark gesunken (ebenfalls auf ein Fünftel, verglichen mit 1950). Und die Zahl der Diagnosen und die Sterblichkeit sinken weiter. Das ist zweifellos erfreulich. Dennoch möchte ich zwei Bedenken gegen den PAP-Test äußern.
Erstens: Der Test gilt zwar oft als Ursache des Rückgangs der Neudiagnosen und der Sterberate; aber die Wahrheit könnte differenzierter sein. Andere Faktoren, zum Beispiel bessere Hygiene und weniger Geschlechtskrankheiten, spielen vielleicht ebenfalls eine wichtige Rolle. Faktoren, die mit der Früherkennung nichts zu tun haben, können sehr einflussreich sein: Beim Magenkrebs ist die Zahl der Diagnosen und der Todesfälle sogar noch stärker gesunken, obwohl es nie eine Vorsorgeuntersuchung gab. Veränderte Umweltbedingungen liefern die Erklärung. (Gesundheit ist eben mehr als Gesundheitsfürsorge.)
Zweitens: Die Vorsorgeuntersuchung geht zwar nicht mit Überdiagnosen für invasiven Gebärmutterhalskrebs einher; aber es wäre falsch zu behaupten, dass überhaupt keine Überdiagnosen (oder Überbehandlungen) vorkommen. Die zusätzlichen Diagnosen werden lediglich nicht als Krebs bezeichnet, sondern als Vorstufen: Dysplasie, Karzinom in situ, zervikale intraepitheliale Neoplasie (CIN), squamöse intraepitheliale Läsion (SIL) und – mein persönlicher Favorit – atypische Plattenepithelzellen unbekannter Bedeutung (ASCUS, entspricht in etwa der Kategorie PAP III oder der Kategorie PAP IIw). Wir wissen nicht, wie viele Patientinnen diese Vorkrebsdiagnosen erhalten haben; aber wenn man bedenkt, wie oft solche Anomalien gefunden werden, müssen es Millionen von Frauen sein. Australische Forscher schätzen, dass ein durchschnittliches fünfzehnjähriges Mädchen, das regelmäßig zum PAP-Test geht, mit einer Wahrscheinlichkeit von über 75 Prozent irgendwann im Leben eine Kolposkopie (Verlaufsuntersuchung einer dieser Anomalien) benötigt. 16
Das sind eine Menge Überdiagnosen mit der Bezeichnung »Präkanzerose« bei einer Krebsart, an der 0,2 Prozent oder zwei von Tausend Betroffenen irgendwann sterben. Und die Folge sind eine Menge Therapien: Kryotherapie (Kältebehandlung), Laserkoagulation, Konisation (operative Entfernung eines kegelförmigen Gewebestücks am äußeren Muttermund) und sogar Hysterektomie (operative Entfernung der gesamten Gebärmutter). Die Konisation kann zu Fruchtbarkeitsstörungen führen, und die Hysterektomie macht eine Schwangerschaft natürlich unmöglich. Wegen dieser ernsten Folgen empfiehlt die Amerikanische Akademie der Geburtshelfer und Gynäkologen seit Kurzem, bei jüngeren Frauen seltener Vorsorgeuntersuchungen vorzunehmen. 17
Darmkrebs
Für den Dickdarmkrebs gibt es seit mindestens zwei Jahrzehnten Vorsorgeuntersuchungen. Dennoch hat die Zahl der Diagnosen wie beim Gebärmutterhalskrebs nicht zugenommen. Es gibt also auch hier kein Anzeichen für Überdiagnosen. Die Zahl der Neudiagnosen ist seit 1985 – als die
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