Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)
eine Krankenversicherung zu finden oder in Deutschland in die private Krankenkasse zu wechseln. Die 2010 in den USA beschlossene Gesundheitsreform wird das hoffentlich ändern. Mir wurde klar, dass die bloße Diagnose »Krebs« reale Konsequenzen haben kann, und zwar nicht nur medizinische.
Lungenkrebs
Wenn es um die Volksgesundheit geht, verlangt der Lungenkrebs die größte Aufmerksamkeit. Er ist für jährlich 162 000 Todesfälle in den Vereinigten Staaten verantwortlich. Das ist mehr als Brustkrebs, Prostatakrebs, Melanom, Schilddrüsenkrebs und Darmkrebs zusammen. Etwa 215 000 Amerikaner erhalten jedes Jahr diese Diagnose. Das bedeutet, dass die meisten Menschen mit der Diagnose »Lungenkrebs« an der Krankheit sterben. Die Therapie des fortgeschrittenen Lungenkarzinoms ist entsetzlich. Wenn es jemals einen guten Kandidaten für eine Vorsorgeuntersuchung gab, dann ist es der Lungenkrebs. Und es ist ganz einfach, die Hochrisikogruppe zu benennen: Zigarettenraucher.
Dennoch empfiehlt keine große Organisation derzeit eine Vorsorgeuntersuchung auf Lungenkrebs; einige sind sogar dagegen. Der Grund dafür ist einfach: Drei randomisierte Studien, die in den neunziger Jahren beendet wurden, belegen, dass Röntgenuntersuchungen des Brustkorbs die Zahl derer, die an Lungenkrebs sterben, nicht verringert. 10 Zwei Studien zufolge schienen Vorsorgeuntersuchungen die Zahl der Todesfälle sogar zu vergrößern . Die Teilnehmer, die zur Vorsorgeuntersuchung gingen, wurden häufiger operiert, und eine Lungenkrebsoperation kann ihrerseits zum Tod führen.
Die langfristige Anschlussstudie nach einer dieser Studien – der Mayo-Lungenstudie – belegt, dass bei denen, die zur Vorsorgeuntersuchung gingen, die Zahl der Lungenkrebsfälle zu jedem Zeitpunkt erheblich größer war. 11 Etwas mehr als neuntausend Raucher hatten teilgenommen. Die eine Hälfte wurde alle vier Monate untersucht (Röntgenaufnahme des Brustkorbs, zytologische Untersuchung des Auswurfs), die andere nicht. Nach sechs Jahren wurden in der überwachten Gruppe 143 Lungenkarzinome entdeckt, in der Kontrollgruppe 87, also 56 weniger. Da es sich um eine randomisierte Studie handelte, muss dieser Unterschied mit der Vorsorgeuntersuchung zusammenhängen. Aber das genügt nicht als Beweis dafür, dass Vorsorgeuntersuchungen zu Überdiagnosen führen; der Unterschied könnte auch darauf zurückzuführen sein, dass die Diagnose »Krebs« bei den Teilnehmern der Vorsorgeuntersuchungen früher gestellt wurde (das heißt, die zusätzlichen Krebsdiagnosen in der überwachten Gruppe während der ersten sechs Jahre wären in der Kontrollgruppe möglicherweise erst im siebten oder achten Jahr oder noch später gestellt worden).
In den folgenden fünf Jahren wurden beide Gruppen ähnlich betreut, und der Unterschied verringerte sich ein wenig. In der Kontrollgruppe gab es zehn »zeitverzögerte« Krebsfälle. Das waren Karzinome, die klinisch auffällig werden mussten (typischerweise wegen des Hustens, des blutigen Auswurfs oder einer Lungenentzündung) und die in der Vorsorgegruppe früher entdeckt worden waren. Doch während einer langfristigen Anschlussstudie traten in den folgenden sechzehn Jahren keine weiteren »zeitverzögerten« Krebsfälle auf. Der bleibende Überhang von sechsundvierzig Krebsfällen spiegelt also Überdiagnosen wider. Selbst beim Lungenkrebs – der allgemein als aggressivste Krebsart gilt – sind somit Überdiagnosen möglich. Nach mehr als zwanzig Jahren lässt die Anschlussstudie darauf schließen, dass etwa die Hälfte der Lungenkrebsfälle, die durch Röntgen oder Untersuchung des Sputums entdeckt worden waren, auf Überdiagnosen zurückzuführen sind.
Überdiagnosen sind beim Lungenkrebs gefährlicher als bei den meisten anderen Krebsarten. Der Mayo-Lungenstudie zufolge wurden offenbar fast alle betroffenen Patienten operiert. Und die chirurgische Behandlung des Lungenkrebses – dabei wird ein Teil der Lunge entfernt – geht mit einem erheblichen Sterberisiko einher (es ist viel größer als nach der Entfernung der Schilddrüse, eines Hautstreifens oder einer Brust). Und die Menschen, die am häufigsten operiert werden – Raucher –, kommen mit weniger Lungengewebe auch am schlechtesten zurecht, weil ihre Lungenfunktion durch Emphyseme ohnehin beeinträchtigt ist. Nach den Daten von Medicare sterben etwa 5 Prozent der Patienten innerhalb von dreißig Tagen nach der Lungenkrebsoperation. Dennoch bleibt das Interesse an
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