Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)
einem Reporter der New York Times , sie sei »sehr beunruhigt darüber, dass eine Gruppe sogenannter Experten den Sinn der Früherkennung bezweifelt«. Allerdings räumte sie ein, den Bericht nicht gelesen zu haben. 5
Die Politiker benahmen sich nicht viel besser. Senator Arlen Specter (ein Republikaner aus Pennsylvania) zitierte den Vorsitzenden des Gremiums herbei, damit er den Bericht bei einer speziellen Anhörung vor dem Senats-Unterausschuss für Arbeit, Gesundheit und Soziales rechtfertigte. Der Senat fasste einen nicht verbindlichen Beschluss, in dem er die Mammografie für Frauen in den Vierzigern unterstützte. Das Abstimmungsergebnis lautete 98 zu 0. Niemand wollte auf der falschen Seite stehen. Der Direktor des NCI, der jetzt unter erheblichem politischem Druck stand, bat seinen Beirat, den Bericht des Gremiums noch einmal zu überdenken. Zunächst lehnten die Beiratsmitglieder das ab, weil sie nicht in ein altbewährtes Verfahren eingreifen wollten; doch schließlich empfahlen sie mit 17 zu 1 Stimmen allen Frauen in den Vierzigern eine Mammografie.
Zwölf Jahre später, 2009, kam es zu einem ähnlichen Aufstand, als die amerikanische Preventive Services Task Force (PSTF, ein von der Regierung einberufenes Expertengremium, das sich mit vorbeugenden Maßnahmen in der Medizin befasst) zu dem Schluss kam, dass Frauen nicht ab vierzig, sondern erst ab fünfzig Jahren an der Brustkrebs-Vorsorgeuntersuchung teilnehmen sollten. 6 Das Timing hätte nicht schlechter sein können. Obwohl die Mitglieder der PSTF von der Regierung Bush berufen worden waren und ihre Schlüsse schon vor einem Jahr gezogen hatten, veröffentlichten sie ihren Bericht erst, als die Regierung Obama sich bemühte, das Gesundheitssystem zu reformieren. Jetzt wurden die Empfehlungen zur Mammografie mit einem viel größeren Problem durcheinandergebracht: mit der Eindämmung der Gesundheitskosten. Obwohl die PSTF-Mitglieder ausdrücklich erklärten, die Kosten hätten bei ihren Empfehlungen keine Rolle gespielt, bezeichneten Regierungskritiker ihren Bericht als Beginn der Rationierung und als Vorspiel zu einer schönen neuen Welt von »Todesgremien«.
Gesundheitsministerin Kathleen Sebelius distanzierte sich rasch von den Empfehlungen der PSTF, und im Senat wie im Repräsentantenhaus wurden hastig Anhörungen anberaumt, bei denen es um die Zukunft der PSTF selbst ging. Immerhin stimmten führende Gruppen, die sich mit Frauengesundheit befassten, den PSTF-Empfehlungen zu: die Breast Cancer Action, die National Breast Cancer Coalition und das National Women’s Health Network. Dennoch tobte der Streit weiter. Viele Politiker, politische Entscheidungsträger und Ärzte wollten das heiße Eisen offenbar nicht anfassen – also wählten sie die sichere Alternative und lehnten die Empfehlungen der PSTF ab.
Vorteile und Nachteile
Natürlich ist Brustkrebs für das öffentliche Gesundheitswesen ein sehr ernstes Problem und wahrscheinlich der häufigste Krebstyp bei Nichtraucherinnen. Bei keiner anderen Krebsart ist das Sterberisiko so hoch. (Bei Raucherinnen und Rauchern ist Lungenkrebs bei Weitem die gefährlichste Krebsart.) Jedes Jahr sterben in den Vereinigten Staaten etwa 40 000 Frauen an Brustkrebs. Deshalb müssen wir auf jeden Fall über die Vorsorgeuntersuchung nachdenken. Aber jedes Jahr wird bei etwa einer Viertelmillion Amerikanerinnen Brustkrebs diagnostiziert – das sind etwa sechsmal mehr als daran sterben. Der Unterschied ist nicht so dramatisch wie beim Schilddrüsenkrebs oder beim Melanom; dennoch wirft er die Frage auf, ob auch hier Überdiagnosen vorliegen.
Um die Debatte zu verstehen, müssen Sie die wahren Vor- und Nachteile der Mammografie kennen. Das ist gar nicht so einfach; denn die Mammografie hat zwar echte Vorteile, doch einige verbreitete Vorstellungen über ihren Nutzen sind einfach nicht wahr. Viele Leute kennen die offensichtlichen Nachteile der Mammografie, aber der größte Nachteil ist am wenigsten bekannt. Meiner Meinung nach werden die Vorteile systematisch übertrieben, während man die Nachteile herunterspielt oder, schlimmer noch, verheimlicht. Und noch einer unbequemen Wahrheit müssen wir ins Auge schauen: Die randomisierten Studien liefern keine eindeutigen Antworten, trotz des enormen Aufwandes und der gewaltigen Zahl von Frauen, die daran teilgenommen haben.
Der wahre Nutzen der Mammografie
Gestützt auf alle Studien schätzte die PSTF, dass die Mammografie das Risiko, an Brustkrebs zu sterben, um
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