Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)
zahllosen Stunden, in denen die Frau vom Hausarzt und von Ultraschallexperten über die »Bedeutung« des Befundes aufgeklärt wird, habe ich bei den Kosten nicht mitgezählt, auch nicht den Schmerz der künftigen Eltern. Wenn sie auf den Fruchtwassertest verzichten (das ist meiner Meinung nach die richtige Entscheidung), müssen sie bis zum Ende der Schwangerschaft mit ihren restlichen Zweifeln leben. Hat mein Kind ein Down-Syndrom? Vielleicht hätte ich mein Fruchtwasser doch untersuchen lassen sollen. Die Vorfreude auf die Geburt des Sohnes oder der Tochter weicht der Sorge.
Nun ja, sagen Sie, diese Untersuchungen haben auch viel Gutes bewirkt. Zu den vielen Vorteilen gehören eben auch ein paar Nachteile. Vielleicht bin ich eine Ausnahme (ich bezweifle es), aber ich sehe die »vielen Vorteile« nicht. Ich bin ein einfacher Arzt. (…) Meiner Meinung nach richtet die Identifikation solcher »Anomalien« bei Frauen mit geringem Risiko inzwischen mehr Schaden als Nutzen an.
Sie sollten wissen, dass Dr. Filly keine Ausnahme ist. Eine umfangreiche Analyse von 56 Studien zu diesem Thema kam zu dem Ergebnis, dass derartige Anomalien in der klinischen Praxis keine hinreichend zuverlässigen Indikatoren für Trisomie sind. Die Autoren der Metaanalyse erklärten, eine Trisomie-Früherkennung wegen solcher auf Sonogrammen entdeckter Anomalien verursache sogar noch mehr Frühgeburten als die Diagnose »Trisomie-Syndrom«. 12
Eine Überdiagnose während der Schwangerschaft ist eine Diagnose, die entweder bei einer Schwangeren gestellt wird, die ansonsten normal gebären würde, oder die bei einem Fetus gestellt wird, der später als normaler Säugling zur Welt kommt. Die Anomalie beim Fetus oder bei der Mutter ist tatsächlich vorhanden; aber sie würde ohne Diagnose folgenlos bleiben. In unserem Gesundheitssystem sind wir versessen auf Diagnosen bei völlig gesunden Menschen, oft unter dem Deckmantel der Vorbeugung. Angesichts des technischen Fortschritts ist es kein Wunder, dass wir auch bei Feten im Mutterleib Diagnosen stellen. Einige dieser Ungeborenen haben tatsächlich Erbschäden, aber viele von ihnen sind gesund. Unsere Begeisterung für Frühdiagnosen betrifft also auch die Schwangerschaft. Die häusliche Monitorüberwachung hat dazu geführt, dass mehr Frauen denn je zu hören bekommen, ihnen drohe eine Frühgeburt. Die Monitorüberwachung der Feten führt dazu, dass bei zu vielen Ungeborenen Sauerstoffmangel festgestellt wird. Und in beiden Fällen führt unsere Leidenschaft für Diagnosen zu zusätzlichen unnötigen Maßnahmen, entweder zu mehr Medikamenten, um die Geburtswehen zu unterbinden, oder zu mehr Notkaiserschnitten.
Anomalien auf den Sonogrammen von Feten sind noch heikler. Diese Funde ziehen meist keine Behandlung nach sich, wohl aber diagnostische Maßnahmen und mehr unnötige Ängste. Einige meiner Kollegen würden vielleicht nicht von Überdiagnosen sprechen, sondern von falschem Alarm oder falsch-positiven Tests, wie wir es nennen. Aber falscher Alarm wird meist ziemlich rasch erkannt, in der Regel durch einen Folgetest. Anomalien dagegen, die auf Sonogrammen von Ungeborenen entdeckt werden, lassen sich gewöhnlich nicht durch weitere Untersuchungen abklären. Weil es aussagefähigere Tests einfach nicht gibt, weil der Test unklar ist oder weil man auf einen Test verzichtet, um das Risiko für eine Fehlgeburt nicht zu erhöhen, stellen sich diese Anomalien erst dann als Fehlalarm heraus, wenn ein gesundes Kind geboren wird. Ich räume ein, dass man unterschiedlicher Meinung sein kann, was die genaue Bezeichnung dieses Problems anbelangt; aber für mich ist es ein weiteres Beispiel für Überdiagnosen.
Und ich glaube, das würden auch die meisten Frauen sagen, die mit diesem Problem konfrontiert wurden. Mit Ultraschall können wir eine Menge anderer Anomalien aufspüren, die nichts mit den Trisomie-Syndromen zu tun haben. Die Diagnose jeder Anomalie kann dazu führen, dass Eltern sich Sorgen über die Zukunft ihres Kindes machen. Natalie Angier, eine Wissenschaftsreporterin der New York Times , schrieb in ihrem Artikel »Ultrasound and Fury« 13 über die Folgen einer routinemäßigen Ultraschalluntersuchung in ihrer zwanzigsten Schwangerschaftswoche. Was sie erlebte, ist nicht ungewöhnlich: Natalie Augier hatte sich auf den Ultraschall gefreut, alle ihre bisherigen Routineuntersuchungen waren positiv verlaufen. Diesmal habe die Frauenärztin jedoch kurz gezögert, als sie ihr die Diagnose
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