Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)
Vereinigten Staaten jährlich 500 000 Babys zu früh geboren werden, hofften einige Ärzte, dass die frühe Diagnose vorzeitiger Gebärmutterkontraktionen, gefolgt von einer Behandlung, die sie unterbindet, einige Frühgeburten verhindern kann.
Anfang der neunziger Jahre initiierte die kalifornische Gesundheitsorganisation Kaiser Permanente eine randomisierte Studie, an der rund 2400 Schwangere teilnahmen, bei denen das Frühgeburtsrisiko hoch war. 2 Untersucht wurde, ob es sinnvoll ist, bei solchen Frauen die Gebärmutter zu überwachen. Die beiden häufigsten Risikofaktoren waren Zwillingsschwangerschaften (hier sind Frühgeburten häufig) und Frühgeburten in der Vergangenheit. Frauen in der Interventionsgruppe bekamen einen Gebärmuttermonitor und wurden angewiesen, diesen zu Hause jeden Morgen und Abend eine Stunde lang zu benutzen. Die Daten mussten sie sofort telefonisch einem Geburtshilfezentrum übermitteln. Die Mitarbeiter des Zentrums werteten die Daten aus, und wenn es Anzeichen für vorzeitige Kontraktionen gab, rieten sie den Frauen, einen Arzt aufzusuchen. Um sicherzustellen, dass die Frauen die Regeln einhielten, wurden die Frauen der Interventionsgruppe außerdem täglich von Krankenschwestern angerufen.
Die Frauen in der Kontrollgruppe wurden einmal in der Woche lediglich kontaktiert. Sie bekamen keine Monitore, und man versuchte nicht, Anzeichen für frühe Kontraktionen zu entdecken. Die Studie dauerte vier Jahre und zeigte, dass die überwachten Frauen häufiger medizinisch behandelt wurden. Sie gingen fast zweimal so oft außerplanmäßig zu ihrem Gynäkologen als die nicht überwachten Frauen (durchschnittlich 2,3 gegenüber 1,2 Besuche), und die Wahrscheinlichkeit, dass sie Medikamente bekamen, um die Aktivität der Gebärmutter zu unterdrücken, war um 50 Prozent höher als bei den Frauen der Kontrollgruppe (in der Interventionsgruppe wurden 19 Prozent der Frauen behandelt, in der Kontrollgruppe nur 12 Prozent). Auf die Zahl der Frühgeburten hatte die Überwachung jedoch keinen Einfluss: 14 Prozent der Frauen in beiden Gruppen brachten ihr Kind zu früh zur Welt. Alle zusätzlichen Diagnosen waren also Überdiagnosen, und jede zusätzliche Behandlung war eine Überbehandlung. Heute gilt die Überwachung der Gebärmutter zu Hause nicht mehr als Teil der normalen Geburtshilfe.
Die Herzfunktion des Babys wird gründlich untersucht
Heute können wir auch die elektrischen Impulse im Herzen eines Babys während des Geburtsvorganges überwachen. Dabei wird der Schwangeren meist ein Gürtel umgelegt, der ein Ultraschallgerät enthält. Die elektronische Überwachung des Fetus wird seit fast fünfzig Jahren praktiziert. Man will damit sicherstellen, dass der Fetus während der Geburt genügend Sauerstoff bekommt. Wenn nicht, sinkt die Herzfrequenz des Kindes oft beträchtlich. Wenn ein Geburtshelfer auf dem Monitor eine langsamere Herzfrequenz beobachtet, entscheidet er sich vielleicht für einen sofortigen Kaiserschnitt. Dabei wird das Kind aus dem Bauch der Mutter geholt. Das ist eine große Operation. Eine langsame Herzfrequenz auf dem Monitor führt nicht zu einer geplanten Operation, sondern zu einem Notkaiserschnitt bei einer Frau, die versucht hat, ihr Kind vaginal zu gebären. Wie bei den meisten anderen Operationen sind Kaiserschnitte riskanter, wenn es sich um Notoperationen handelt. Die Situation ist weniger beherrschbar, die Helfer sind nicht so gut auf sie eingestellt, und die Gefahr von Komplikationen ist größer.
Die Cochrane Collaboration, eine unabhängige internationale Organisation, die Forschungsergebnisse über die Auswirkungen der Gesundheitsfürsorge sammelt, analysiert seit Jahren Studien zur elektronischen Überwachung des Fetus. Obwohl die Wissenschaftler experimentelle Studien unter die Lupe nahmen, an denen mehr als 37 000 Frauen beteiligt waren, fanden sie wenige Anhaltspunkte dafür, dass Monitore einen Nutzen haben. Überwachte Feten sind bei der Geburt offenbar nicht gesünder, wenn man die sogenannten Apgarwerte zugrunde legt, die standardisierte Beurteilung des Aussehens, des Pulses, der Mimik, der Aktivität und der Atmung eines Neugeborenen. Die Überwachung verringert auch nicht die Zahl der Neugeborenen, die an zerebraler Kinderlähmung erkranken, in die sogenannten Intensivstation gebracht werden müssen oder sterben. 3 Der einzige Vorteil, den die Forscher fanden, war ein geringeres Krampfanfallrisiko bei Kleinkindern, die als Feten überwacht worden
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