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Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)

Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)

Titel: Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. Gilbert Welch , Lisa M. Schwartz , Steven Woloshin
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Die beste Methode, einer Schwangeren Angst einzujagen«. Als sie mir den Text zeigte, hatte ich den Verdacht, er stamme aus einer Zeitschrift von Naturaposteln oder aus einer alternativmedizinischen Veröffentlichung. Aber er war dem Journal of Ultrasound in Medicine entnommen, der offiziellen Zeitschrift des Amerikanischen Instituts für Ultraschall in der Medizin. Und der Autor war kein Außenseiter, der die Sonografie kritisierte, sondern Dr. Roy Filly, ein ausgemachter Insider. Filly ist Professor für Radiologie sowie für Gynäkologie und Geburtshilfe in einem der führenden medizinischen Zentren der USA, der medizinischen Fakultät der kalifornischen Universität in San Francisco. Dort leitet er seit Jahren die Abteilung für diagnostische Sonografie. Vor fast vierzig Jahren führte er eine der ersten Ultraschalluntersuchungen bei Schwangeren durch. In dem Artikel, der Dr. Schwartz und mich damals so überraschte, schrieb er:
    Die Gelegenheit, einer erwartungsfrohen Mutter zu sagen: »Alles sieht gut aus«, war einer der Höhepunkte meines Berufs. Ich sehe heute noch die Woge der Erleichterung, die ihr über das Gesicht huschte. Es ist immer ein ergreifender Augenblick, gefolgt von einem »Danke, Herr Doktor«.
    Heute denke ich anders darüber. Immer öfter fürchte ich mich vor dem Gespräch mit einer Patientin. Ich habe ihr Sonogramm studiert und etwas entdeckt, was die Mutter in Verwirrung und Angst stürzt. (…) Wenn ich morgen wieder zur Arbeit gehe, muss ich wahrscheinlich mit einer künftigen Mutter über eine »Anomalie« sprechen, die ich auf ihrem Sonogramm sehe, und ich weiß nicht, was ich ihr sagen soll. 8
    In den letzten paar Jahrzehnten haben Wissenschaftler zahlreiche Arbeiten über die anatomischen Anomalien veröffentlicht, die mit Trisomie-Syndromen zusammenhängen, einer gefürchteten Gruppe von Gendefekten. Der Name bedeutet, dass von einem Chromosom drei Kopien statt der normalen zwei vorhanden sind. Das bekannteste Trisomie-Syndrom ist das Down-Syndrom; aber es gibt noch einige andere. Das Problem ist, dass die anatomischen Anomalien, die mit diesen Gendefekten zusammenhängen – zum Beispiel »helle Flecken« im Herzen oder im Darm –, nicht sonderlich anormal sind. Man findet sie zwar bei Feten mit Trisomie, doch häufig auch bei normalen Feten. Dr. Filly schätzt, dass etwa 10 Prozent der normalen Feten mindestens eine dieser »Anomalien« aufweisen.
    Die Trisomie-Syndrome sind ziemlich selten – sie kommen nur bei drei von tausend Lebendgeburten vor. 9 Aber 10 Prozent aller normaler Feten weisen anatomische Anomalien auf, also hundert je tausend Lebendgeburten. Wenn wir also jeder Schwangeren eine Ultraschalluntersuchung zumuten, bekommen wir eine ganze Menge Überdiagnosen. Von hundert Feten mit Anomalien haben höchstens drei eine Trisomie. 10 Die anderen siebenundneunzig wurden Opfer von Überdiagnosen, das heißt, die Diagnose »Anomalie« wird gestellt, obwohl diese »Anomalie« folgenlos bleibt. Doch wenn wir eine Frau über die Anomalie informieren, hat das erhebliche Folgen: viele weitere Untersuchungen, mehr Fruchtwassertests und mehr Fehlgeburten (veröffentlichten Schätzungen zufolge führen 0,06 bis 1 Prozent aller Fruchtwasseruntersuchungen zu einer Fehlgeburt 11 ). Noch wichtiger ist vielleicht, dass betroffene Frauen während ihrer Schwangerschaft – die eine der schönsten Erfahrungen ihres Lebens sein sollte – von Angst gepeinigt werden.
    Für Dr. Filly ist dies ein großes Problem, das seine Patientinnen ganz unmittelbar bewegt:
    Die Fachärzte lesen diese wissenschaftlichen Papiere und identifizieren diese »Anomalien« dann während einer Routinesonografie. Was sollen sie der Patientin sagen? Diese Frau hat kein Beratungsgespräch hinter sich. Die Sonografie soll sie »beruhigen« (das kann sie nun vergessen). Ihr Mann, ihre Kinder und ihre Eltern sind bei ihr. Es herrscht Partystimmung. Das Videoband läuft. Doch bald verstummt das Kichern, niemand zeigt mehr mit dem Finger und fragt: »Ist das der Herzschlag?«, oder: »Ist das dort der Penis?«. Nun lautet die Frage: »Soll das heißen, mein Kind wird geistig behindert sein?«
    Zweifellos haben Sie die Schwangerschaft jetzt teurer gemacht. Vielleicht entscheidet sich die Patientin für eine Fruchtwasseruntersuchung, und vielleicht wird sie in ein Zentrum für vorgeburtliche Diagnostik geschickt, um den Fetus per Ultraschall genau zu untersuchen und um sich erbbiologisch beraten zu lassen. Die

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